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Mit seiner „Ersten“ lieferte der Komponist ein hervorragendes Beispiel schöpfe rischer Aneignung der sinfonischen Tradition eines Beethoven (dessen „Fünfter“ sie an Tiefe des Ausdrucks und Größe der Problemstellung verwandt ist), Schu bert und Schumann. Von dem berühmten Dirigenten Hans von Bülow stammt das bekannte Bonmot, daß Brahmsens „Erste“ Beethovens „Zehnte“ genannt werden könne. Damit ist die musikgeschichtliche Stellung dieser Sinfonie als bedeutendster sinfonischer Beitrag des 19. Jahrhunderts seit Beethoven klar umrissen. Und nichts anderes stellte auch der gefürchtete Wiener Kritiker Eduard Hanslick fest, als er nach der ersten Wiener Aufführung schrieb: „Mit den Worten, daß kein Komponist dem Stil des späteren Beethoven so nahe gekommen sei wie Brahms in dem Finale der ersten Sinfonie, glaube ich keine paradoxe Behauptung, sondern eine einfache Tatsache zu bezeichnen.“ Die am 4. November 1876 in Karlsruhe unter Max Desoff uraufgeführte Sinfonie beginnt mit einer langsamen Einleitung (Un poco sostenuto) von siebenund dreißig Takten, die den thematischen Kern in sich trägt, aus dem der erste Satz hervorwächst: ein chromatisch eindrucksvolles Motiv, zu dem in den Bässen ein unerbittlich hämmernder Orgelpunkt ertönt. Quälende Unruhe, Gefahr, schmerz liches Leid drückt die Einleitung aus. Das anschließende Allegro begehrt trotzig gegen diese Stimmung auf. Aber das chromatische Motiv, dem auch das zweite Thema (in der Oboe) unterliegt, löst ein leidenschaftliches Ringen aus, das in der Durchführung seine Höhepunkte erfährt. Mit dem Kopfmotiv der Einleitung kündigt sich die Coda an. Die verzweifelte Spannung löst sich trostvoll in C-Dur. Eine zwingende, einheitliche thematische Gestaltung besitzt der zweite Satz (Andante sostenuto) mit seinem trostvoll-innigen Hauptthema, das die Violinen, von den Fagotten unterstützt, anstimmen. Mehr elegischen, klagenden Charakter hat das cis-Moll-Nebenthema der Holzbläser. Im Mittelteil wechseln sich Oboe, Klarinette, Celli und Kontrabässe konzertant in der Führung ab. In der Reprise greift die Solovioline den zweiten Teil des Hauptthemas auf. Die verhaltene Heiterkeit des dritten Satzes (Un poco allegretto e grazioso) läßt Hoffnung schöpfen, daß die düsteren Kräfte und Gedanken überwunden werden können. Holzbläser führen die Motive dieses Satzes ein (die Klarinetten das wiegende, herzliche Hauptthema). Humorvoll musizieren Bläser und Streicher im H-Dur-Trio gegeneinander. Mit Recht hat man das Finale dieser Sinfonie als den gewaltigsten Sinfoniesatz seit Beethoven bezeichnet. Drei tempomäßig unterschiedliche Teile geben die äußere Gliederung. Der Satz beginnt mit einer Adagio-Einleitung, die der des ersten Satzes ähnlich ist. Zunächst erklingt ein chromatisch-schmerzliches Motiv, das in eine drohende, unheilvolle Stimmung hinübergeführt wird (synkopische Pizzicato-Steigerungen, verzweifelte Bläserrufe, erregte Streicherfiguren). Da ertönt plötzlich — nach einem Paukenwirbel — ein seelen- und friedvolles Horn- thema (Piü Andante), das an Webers Freischütz-Ouvertüre und Schuberts große C-Dur-Sinfonie erinnert. Danach beginnt der dritte Teil des Finales (Allegro non troppa ma con brio) mit seinem weitläufigen, jubelnden Marschthema in vollem Streicher klang, das teilweise an den Freudenhymnus von Beethovens 9. Sin fonie gemahnt. Nun erfolgt der Durchbruch zu optimistischer Haltung; die dunk len Kräfte werden bezwungen. Neben dem innigen zweiten G-Dur-Thema und dem aktiv-drängenden dritten Thema kehren auch die anderen thematischen Gestaltungen des Satzes wieder und beteiligen sich an der stürmischen Durch führung. Den hymnischen Ausklang dieser einzigartigen Sinfonie bringt das Piü Allegro. Dr. Dieter Härtwig III/11/4 Kg (G) 143/66 3413 W