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VORTRAGSFOLGE Carl Maria von Weber (1786—1826) Ouvertüre zur Oper „Der Freischütz“ Siegfried Thiele (geb. 1934) Konzert für Klavier und Orchester Andante (Thema) Allegro Thema variatum (Cantus) — Andante Sostenuto Thema variatum (Tokkata) — Allegro Pause Johannes Brahms (1833—1897) 1. Sinfonie c-Moll op. 68 Un poco sostenuto — Allegro Andante sostenuto Un poco Allegretto e graziöse Adagio — Allegro non troppo ma con brio % ZUREINFÜHRUNG Carl Maria von Webers Ouvertüre zu seiner Oper „Der Freischütz“ (1821) ist wie das gesamte Werk, das nach Mozarts „Zauberflöte“, Beethovens „Fidelio“ und vor Richard Wagners Musikdramen den bedeutendsten deutschen Beitrag zur Gattung Oper darstellt, eine Musikschöpfung von einzigartiger menschlicher Aussagekraft. Musik dieser Art konnte nur ein Musiker schaffen, der wie Weber innig mit der Natur, der deutschen Landschaft verbunden war, der aus dem Leben und Empfinden des Volkes heraus musizierte. Formal ist die „Freischütz“- Ouvertüre — wie Mozarts „Zauberflöten“-Ouvertüre und Beethovens drei Leo- noren-Ouvertüren — eine Tondichtung, die den wesentlichsten Ideengehalt der Opernhandlung nach klassisch-sinfonischem Prinzip verarbeitet. Der in der Oper gestaltete Sieg des Guten über das Böse hat denn auch in der Ouvertüre voll endeten künstlerischen Ausdruck gefunden. Dabei weist dieses geniale Tonstück trotz vieler Klangmalereien nichts Äußerlich-Programmatisches auf. Alles ent springt vielmehr logischer, innerer musikalischer Entwicklung. Nach einer knappen, feierlichen Streichereinleitung erklingt in den Hörnern jene volkstüm liche Weise, die Stimmungshaft den Schauplatz der Opernhandlung charakteri siert: den deutschen Wald. Im anschließenden c-Moll-Allegro entsteht sodann vor dem Hörer die Düsterheit der Wolfsschlucht-Szene, die Welt des schwarzen Jägers Samiel (drohend klopfende Bässe, Streichertremoli, tiefe Klarinetten). Dieser schauerlich-dramatischen Szene folgt unversehens ein friedliches Bild, eine Klarinettenmelodie, unterstützt von den ersten Violinen: Agathes Liebes lied. Nach sinfonischem Prinzip erfolgt nun die Wiederkehr der konstrastreichen Themen und Stimmungen. Ein jubelnder C-Dur-Fortissimoakkord schließlich kündet den Sieg des Guten an. Nochmals erklingt Agathes Liebesmelodie, nun zum strahlenden Schlußhymnus gesteigert. Siegfried Thiele, 1934 im damaligen Chemnitz geboren, studierte an der Hochschule für Musik in Leipzig Komposition (bei den Professoren Weismann und Weyrauch) und Dirigieren. Nach Abschluß des Hochschulstudiums wirkte er als Musiklehrer, zunächst an den Musikschulen Radeberg und Wurzen, seit 1962 an der Leipziger Musikhochschule. Neben seiner Lehrtätigkeit führte Siegfried Thiele seine Kompositionsstudien an der Deutschen Akademie der Künste in Berlin bei Professor Leo Spies in den Jahren 1960 bis 1962 weiter. Der junge Komponist konnte verschiedentlich nachdrücklich auf sich aufmerksam machen. An Werken entstanden bisher Klaviermusik, Kammermusik, ein Flötenkonzert, ein Trompetenkonzert, die „Pantomime für Orchester“ und eine Sinfonie in fünf Sätzen. Das Konzert für Klavier und Orchester entstand auf Anregung von Annerose Schmidt in den Jahren 1962 und 1963, wurde in Erfurt unter Ude Nissen erfolg reich uraufgeführt und erlebte bisher eine bedeutungsvolle Reprise im Leipziger Gewandhaus unter Rudolf Kempe. Der Solopart wurde stets von Annerose Schmidt interpretiert. (Rudolf Kempe gefiel das Werk übrigens so gut, daß er Annerose Schmidt damit nach München und London verpflichtete). Über das Konzert äußert sich der Komponist folgendermaßen: „Die Fünfsätzigkeit des Werkes entspringt der Idee der Polarität: zwei kontrastierende, umfangreiche Sätze (der zweite und vierte) werden von drei kurzen Sätzen umfaßt bzw. gegen einander abgegrenzt (erster, dritter und fünfter Satz). Diese drei kurzen Sätze stehen so zueinander, daß ein Thema zwei gegensätzlich geartete Abwandlungen erfährt. Das im ersten Satz vom Klavier einstimmig vorgetragene Thema wird im dritten Satz in kantabler, rhythmisch aufgelöster Gestalt durch verschiedene Orchesterinstrumente geführt (Kontrabaß, Trompete, Fagott, Posaune). Das Kla vier ist am Geschehen dieses mittleren, kurzen Satzes unbeteiligt. Der ab schließende fünfte Satz verwandelt das Thema in eine rhythmisch akzentuierte und klanglich verschärfte Tokkata. Der zweite und vierte Satz repräsentieren im Hinblick auf ihre größere Ausgedehntheit ein Gleichgewichtsverhältnis, im bezug auf ihre innere Beschaffenheit aber sind sie als ein Gegensatzpaar zu hören und zu verstehen. Der zweite Satz ist ein tänzerisches, vorzugsweise vitales Stück, das in unaufhaltsamem Tempo einen vorwärtsdrängenden Charak terzug entwickelt und das Phänomen der Steigerung vor dem Hörer entfaltet. Der vierte Satz hingegen trägt mehr nach innen gewandte, kontemplative Züge, die in teils rhapsodischen, teils still besinnlichen Gesten sich zeigen. Eine gestalt bildende Differenziertheit führt hierbei zu Tempounterschieden auch innerhalb eines Satzes. — Die Gesamtform des Werkes will Zeugnis ablegen von dem Be mühen, die von der klassischen Musik hei- bekannten Prinzipien der Polarität und der Verwandlung aufzugreifen und erneut zu verwenden.“ * Erst im reifen Alter von dreiundvierzig Jahren, 1876, vollendete Johannes Brahms seine 1. Sinfonie c-Moll op. 68, und bereits neun Jahre später schuf er seine 4. und letzte Sinfonie. Sein sinfonisches Schaffen umspannt also zeitlich gerade ein Jahrzehnt. Aber welch eine Fülle herrlichster Musik, welch eine ein zigartige Weite und Wärme musikalischen Ausdrucks verbirgt sich hinter dieser nüchternen Feststellung. Brahms fiel die Auseinandersetzung mit der großen zyklischen Form des 19. Jahrhunderts nicht leicht (allein sein schmerzvolles Ringen um die 1. Sinfonie bestätigt dies: lag der erste Satz bereits 1862 vor, so konnte doch das gesamte Werk erst vierzehn Jahre später vollendet werden).