Volltext Seite (XML)
Johannes Brahms Sinfonie Nr. 1, c-Moll, op. 68 „Eine Symphonie ist seit Haydn kein bloßer Spaß mehr, sondern eine Ange legenheit auf Leben und Tod" hat Brahms einmal gesagt. Schon diese Äußerung zeigt, welch ein Problem diese musikalische Gattung nach den Sinfonien eines Beethoven für Brahms darstellte. Von ihm spricht Brahms, wenn er seinem Freund Levi gegenüber äußert: „Du hast keinen Begriff, wie unsereinem zu mute ist, wenn er immer so einen Riesen hinter sich marschieren hört." Die künstlerische Meisterschaft, mehr noch die beinahe unerreichbare Einheit von Inhalt und Form in den Sinfonien und deren aktuelle Bezogenheit waren für die Komponistengeneration nach Beethoven zum Problem geworden. Die in die 48er Revolution gesetzten Hoffnungen waren zerschlagen und die fortschritt lichen Kräfte in die Defensive gedrängt. So ist es sicherlich kein Zufall, daß Brahms, dessen patriotische Gesinnung durch Briefäußerungen belegt ist und der ein begeisterter Anhänger der deutschen Vereinigungsbestrebungen war, seine erste Sinfonie 1876 nach fast 20jährigem Ringen zu einer Zeit beendete, in der das Deutsche Reich, wenn auch mit Gewalt, gegründet wurde. Leit gedanke dieser c-Moll-Sinfonie ist die Beethovensche Idee „Durch Nacht zum Licht". Die Verwandtschaft mit den Sinfonien Beethovens beruht also nicht nur auf der Verwandtschaft des Finalthemas von Brahms' Erster mit dem Freuden hymnus der Neunten, sondern auf der Gemeinsamkeit ihres Grundgedankens. Noch kann Brahms die Botschaft eines schwer erkämpften Optimismus verkün den, wo zehn Jahre später Ausweglosigkeit und Resignation siegen. Entscheidend war für Brahms die Beziehung zur klassischen Tradition. Unver kennbar ist das Vorbild Beethovenscher Gestaltungsprinzipien, angefangen bei der thematischen Verarbeitung, der Konfliktgestaltung und der lebensbejahen den Schlußlösung in den Finalsätzen bis hin zur dramaturgischen Gesamt konzeption. Große Bedeutung hatte für Brahms das deutsche Volkslied, dem er bis in die letzten Jahre seines Lebens große Aufmerksamkeit bewahrt hat. Auch in dieser Sinfonie ist es in seiner Vielfältigkeit überall zu spüren, nicht nur in den Alphornrufen der Ecksätze. Dem ersten Satz geht eine langsame Einleitung (Un poco sostenuto) voraus, die das Hauptthema bereits in zwei Motiven enthält. Schon hier wird der Kampf zwischen Resignation und Aktivität durch die chromatischen und drei klanggebundenen, auf- und abwärts gerichteten melodischen Gestalten ange deutet, der zum Hauptkonflikt des Satzes wird. Dem leidenschaftlichen ersten Thema läßt Brahms entsprechend dem klassischen Sonatenvorbild einen zweiten lyrischen Gedanken folgen. Die Konfliktgestaltung der Durchführung wird jedoch von den gegensätzlichen Bestandteilen des Hauptthemas bestimmt, wobei das für die gesamte Sinfonie besonders wichtige chromatische Motiv eine Umdeu tung zum Kämpferischen erfährt. Dennoch bringt dieser Satz keine Lösung des Konflikts, sondern mit den Schlußtakten eine Rückkehr zur langsamen Einleitung. Der langsame zweite Satz (Andante sostenuto) wird von einem liedhaften Thema geprägt. Die kammermusikalische Gestaltung gibt diesem ausdrucks vollen Satz einen intimen, verinnerlichten Charakter, der noch durch die zarte Cantilene der Solo-Violine betont wird. Den dritten Satz könnte man als graziöses, heiter-besinnliches Intermezzo bezeichnen, dem ein kontrastierender Mittelteil eingefügt ist. Dem heiteren zweiteiligen ersten Thema (sein zweiter Teil ist die Umkehrung des ersten) folgt sogleich ein punktiertes, tänzerisches, abwärtsführendes Motiv. Wie aus Brief äußerungen hervorgeht, hat Brahms die beiden Mittelsätze bewußt knapp gehalten, damit sie ein Gleichgewicht zu den konfliktgeladenen, ausgebauten Ecksätzen bilden. Das Finale beginnt wie der erste Satz mit einer langsamen Einleitung (Ada gio), die ihren ersten Höhepunkt in einem Hornthema, das melodisch einem Alphornruf abgelauscht ist, erreicht. Mit einem feierlichen Choral beendet Brahms die Introduktion und leitet zum Hauptteil über. Er beginnt mit einem marschartigen Thema (dem nach Dur gewendeten Anfangsthema aus dem Adagio). Dieses mitreißende Finalthema führt den Satz in Verbindung mit dem diesmal von allen Blechbläsern intonierten Choralthema zu einem gewaltigen Siegeshymnus, Beethovens Neunter vergleichbar. In dieser Sinfonie offenbart sich Brahms als Bewahrer und Fortsetzer der klas sischen Sinfonik. Nicht zu Unrecht bezeichnete Hans von Bülow sie als „Beetho vens Zehnte". Traute Bauers