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stock und-Holty; er ist der jüngste Zeitgenosse Goethes und Schillers, er erlebt die Revolution der poetischen Romantik, von Tieck, Novalis, den beiden Schlegel bis zu Heine, und die Romantik erschließt ihm durch ihre Übersetzungen ein Stück W eltlitera- tur: Ossian, Petrarca, Shakespeare, Cibber, Scott. Auch was seine Wiener Freunde ihm an Texten liefern, ist doch meist ein nicht unwürdiges Echo der Erregung dieser hoch gestimmten Zeit. Er hat 600 Lieder und Gesänge geschrieben, unter denen eine ganze Reihe die endgültige Lösung des Problems „Lied“ dar stellen: denn wie jede zusammen gesetzte, komplexe Kunstgattung ist das Lied ein Problem, kaum weniger als die Oper, und in jedem einzelne?! Fall bat der Musiker das Equilibrium zwischen Melodie und Begleitung, zwischen Gefühl und Malerei zu finden. Schubert hat es gefunden. Sein Lied ist klassisch und romantisch zugleich; auf keinem andern. Gebiet ist man mehr berechtigt, ihn den romantischen Klassiker zu heißen. Alfred Einstein ZUR EINFÜHRUNG Franz Schubert hat insgesamt zehn Sinfonien entworfen; bei der 7. und 8. - nach neuer Zählung - kam er freilich nicht über Skizzen hinaus. Die ersten sechs Sinfonien ent standen bereits in den Jahren 1813 bis 1817. also zwischen dem 16. und 20. Lebensjahr des Komponisten. Es handelt sich dabei um liebenswürdige Jugendwerke, die zumeist für ein Wiener Liebhaberorchester geschrieben worden wären. Der Einfluß der Vorbilder Haydn, Mozart und Beethoven ist in den Jugendsinfonien stärker als in anderen Arbeiten seiner frühen Schaffensperiode spürbar. Mit der 5. Sinfonie B-Dur aus dem Jahre 1816 wandte sich Schubert von Beethoven, dem er in seiner „Vierten“, der sogenannten „Tra gisch“, gehuldigt hatte, wieder Mozart zu, dem er schon in seinen beiden ersten Sinfonien verpflichtet war. Unmittelbar hintereinander entstanden ein Allegro für Streicher, eine Festtags-Ouvertüre und die 5. Sinfonie für kleine Besetzung, ohne Klarinetten, Trom peten und Pauken. Alle drei Werke weisen die gleiche Tonart auf: B-Dur. Völlig zu Recht hat man Schuberts „Fünfte“, ein wahres Kabinettstück musikalischer Intimität, auf das Orchester übertragene Hausmusik genannt. Für den Hörer gibt es hier keinerlei Probleme. Die Sinfonie erweist sich als ein frisches, heiteres und melo dienreiches Gegenstück zu Mozarts g-Moll-Sinfonie, die Schubert als Vorbild gedient haben mag. Den ersten Satz (Allegro) bestimmt im wesentlichen ein anmutig-schlankes Thema, das spielerisch-locker imitiert wird. Innig und schwärmerisch gibt sich das An dante, das im ersten Teil Zaubcrflöten-Stimmung aufkommen läßt. Der dritte Satz, ein eigentümlich schroffes Menuett in g-MoIl, kopiert fast den entsprechenden Satz in Mozarts g-Moll-Sinfonie. Betont lyrisch ist der Trioteil, eine gefällige Wiener Ländler weise über einem bordunmäßig festgehaltenen Baß. Das Finale (Vivace), ein klarer Sonatensatz mit zwei Themen, besitzt einen volkstümlich-fröhlichen Charakter, neben Mozarts auch Haydns Einfluß erkennen lassend. Daß aber auch Schuberts persönliche Handschrift hier besonders zu spüren ist, macht den Reiz dieses Satzes aus. Schuberts 7. Sinfonie C-Dur sollte besser seine „Zehnte“ genannt werden. Infolge der falschen Zählweise in der Gesamtausgabe der Schubcrtschen Werke hat man allgemein übersehen, daß, wie schon erwähnt, zu einer 7. (D) und 8. (E) Sinfonie Skizzen vor liegen (die E-Dur-Sinfonie hat Felix Weingartner vollendet) und folglich die sogenannte „Unvollendete“ in h-Moll - übrigens fast zur selben Zeit wie die Bccthovcnsche „Neunte“ entstanden - in der Numerierung eigentlich die Nr. 9 (statt Nr. 8) sein müßte. Neuerdings hat der englische Musikwissenschaftler M. J. E. Brown festgestcllt, daß die große C-Dur-Sinfonie, eben die fälschlich als „Siebente“ bezeichnete, identisch ist mit der lange, vergeblich gesuchten „Gmundener oder Gasteiner Sinfonie“. Die Entstehung des Werkes ist nach neuesten Erkenntnissen in den Jahren 1825 bis 1828 anzunehmen, ein Zeitraum, der die oft zu hörende Behauptung widerlegen dürfte, daß Schubert alles im Augenblick komponiert habe, ohne danach beharrlich zu feilen. Erst elf Jahre nach der Fertigstellung entdeckte Robert Schumann die Sinfonie unter Schuberts Nachlaß in Wien. 1840. zwölf Jahre nach dem Tode des Komponisten, erklang erstmalig das Werk, das dieser für seine bedeutendste Sinfonie hielt, unter der Stabführung Mendelssohns in Leipzig. Ihrer „himmlischen Längen“ wegen nannte Schumann die „Siebente“ einen „Roman in vier Bänden von Jean Paul“ und schrieb über die Uraufführung: „Die Sin fonie hat unter uns gewirkt wie nach den Becthovcnschcn keine noch. Künstler und Kunstfreund vereinigten sich zu ihrem Preise. Daß sic vergessen, übersehen werde, ist kein Bangen da, sie trägt den ewigen Jugendkeim in sich ... In dieser Sinfonie liegt mehr als bloßer schöner Gesang, mehr als bloßes Leid und Freud’ verborgen, wie cs die Musik schon hundertfältig ausgesprochen; sic führt uns in eine Region, wo wir vor her gewesen zu sein uns nirgends erinnern können.“ Unbegreiflich will es uns erscheinen, daß damals die meisten Hörer vor den Längen und Schwierigkeiten kapitulierten, während uns heute die Einmaligkeit des Werkes in der gesamten nachbeethovenschen Sinfonik voll bewußt geworden ist. Das, was die C-Dur- Sinfonie immer wieder zu einem nachhaltigen Erlebnis werden läßt, ist die rätselhafte Kraft ihrer Melodik, ist das Lcbcnsstrotzcnd-Volkshafte ihres Ausdrucks. Die Melodik ist cs, die den Riesenbau dieser Sinfonie trägt, nicht die Form, obwohl auch sie klassisch proportioniert ist. Man hat einmal treffend von der „pflanzenhaften Schönheit“ dieses großartigen „Liederzyklus ohne Worte“ gesprochen, der nach Harry Goldschmidt die „Zeit der Tat und Kraft“ - als poetische Idee - besingt, realistisch, national zwar, doch nicht im Sinne von Programmusik. Die C-Dur-Sinfonic zeigt Schubert auf der Höhe seiner Meisterschaft. Seine Tonsprache hat hier wohl die optimistischsten und heroisch sten Elemente, deren sie fähig war, entfaltet. Eine breit angelegte langsame Einleitung steht am Beginn des ersten Satzes. Die Hör ner stimmen einen ruhigen Gesang an, das Motto gleichsam, das gegen Schluß des Satzes in einer Steigerung wiederkehrt. Holzbläser, Streicher und Posaunen tragen diese Ein leitung, die allmählich in das Allegro ma non troppo übergeht mit seinem rhythmisch gestrafften Streicherthema und seinen schwerelosen Holzbläsertrioien bei typischem C-Dur-Glanz. Dem Haupt- und Seitensatz folgt eine durchführungsartige Schlußgruppe. Wunderbar ist der Stimmungsreichtum dieses Satzes, das naturhafte Wachstum der ein zelnen Melodien, die „tief seelisch getragene“ Dynamik (H. Werle). Wie eine über dimensionale Liedform mutet der zweite Satz, das Andante, an, mit seiner begnadeten Fülle von musikalischen Gedanken, die episch verströmen, österreichisch-schwärmerisch, melancholisch, verträumt-innig, aber auch energisch und immer gesund, echt, zum Her zen gehend. Das Scherzo (Allegro vivace) gibt sich zunächst mit den rumpelnden Vier teln seines Hauptmotivs derb-polternd, aber auch heiter, graziös und mündet schließlich in eine herzhafte Wiener Ländlerweise, während das Trio in melodischem Gesang schwelt. Das Finale (Allegro vivace) umfaßt mehr als 1000 Takte. Immer und immer wieder stellt der Komponist seine musikalischen Einfälle vor, spürt ihren Vcrwand- lungsmöglichkeiten nach, ohne sinfonische Auseinandersetzungen herbeizuführen. Das epische, nur von Stimmungskontrasten getragene Ausmusizieren dominiert. Farbig ist der Orchesterklang, kühn die Harmonik. Dieses Finale zeigt Schubert auf dem Gipfel seiner Themenerfindung und -bchandlung. Der Hörer wird von der Innigkeit des Gefühls und von der heldischen Kraft dieser Musik zutiefst berührt. Das ist der beglückende Eindruck, den die Sinfonie immer wieder hinterläßt. Dr. Dieter Härtwig Programmblätter der Dresdner Philharmonie - Spielzeit 1965/66 - Künstlerischer Leiter: Prof. Horst Förster Redaktion: Dr. Dieter Härtwig Druck: Grafischer Großbetrieb Völkerfreundschaft Dresden, Zentrale Ausbildungsstätte 39/93 III 9 5 566 1,3 ItG 009/39/66 DRESDNER 4? «-C. < 8. ZYKLUS-KONZERT 1965/66