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KONGRESS-SAAL DEUTSCHES HYGIENE-MUSEUM Sonnabend, den 21. Mai 1966, 19.30 Uhr Sonntag, den 22. Mai 1966, 19.30 Uhr 10. ZYKLUSKONZERT DAS KOMPONISTENPORTRÄT Dirigent: Heinz Bongartz, Dresden Solistin: Annelies Burmeister, Berlin MAX REGER 1873 - 1916 zum 50. Todestag des Komponisten am 11. Mai 1966 Vier Tondichtungen für großes Orchester nach Arnold Böcklin op. 128 1. Der geigende Eremit II. Im Spiel der Wellen III. Die Toteninsel IV. Bacchanal Solovioline: Konzertmeister Walter Hartwich Hymnus der Liebe für Alt und Orchester op. 136 Aus „Vom Geschlecht der Promethiden“ von Ludwig Jacobowski PAUSE An die Hoffnung für Alt und Orchester op. 124 Nach Worten von Friedrich Hölderlin Variationen und Fuge für Orchester über ein Thema von Mozart op. 132 ZUR EINFÜHRUNG Hatte die musikalische Romantik in Deutschland durch Richard Wagner ihre überragende Steigerung, wenn nicht gar Übersteigerung gefunden, der die romantische Klassizität von Johannes Brahms gegenüberstand, so sahen sich die Nachfahren, die Vertreter der spät romantischen Richtungen vor die Aufgabe gestellt, sich mit diesem Koloß Wagner aus einanderzusetzen, Stellung zu ihm zu beziehen. Während viele Komponisten unter der Gewalt der expansiven und mächtigen Persönlichkeit Wagners ihre eigene schöpferische Potenz begruben und Eigenes in Epigonentum untergehen ließen, fanden zumindest vier Komponisten einen eigenen Weg: Gustav Mahler, Richard Strauss, Hans Pfitzner und Max Reger. Mahler und Pfitzner - ersterer vor allem - ließen die Widersprüche ihrer Zeit, gebrochen durch die Widersprüchlichkeiten ihrer Charaktere, auch in ihrer Musik Klang werden. Richard Strauss setzte mit seinem Werk der spätromantischen Richtung einen vielfarbig schillernden Glanzpunkt auf, der durch seine Verbindung mit der Welt Mozarts teilweise eine ganz eigene, der Klassizität Brahms’ nicht vergleichbare, klassi sche Prägung erhielt. MAX REGER Max Reger, dessen 50. Todestages am 11. Mai 1966 die Musikwelt ehrend gedachte, suchte seinen Weg im Rückgriff auf die musikali sche Gedanken- und Formwelt des Barocks. Sein Gesamtwerk ist eines der verwirrendsten, vieldeutigsten und widerspruchvollsten der jüngeren deutschen Musik. Es ist in seiner Art ein unvergängliches, doch auch erschütterndes Spiegelbild jener Zeit, in der es entstand. Die Saturierthcit und vordergründige Pathetik der Gründerjahre hat wiederholt in Regers Schaffen Ausdruck gefunden, desgleichen die Zeichen einer Zeit und gesellschaftlichen Ordnung, die unaufhaltsam dem Chaos des ersten Weltkrieges, der Auflösung entgegeneilte. Kennzeichnend ist Regers Freundschaft mit dem Maler Max Klin ger, der zu etlichen graphischen Arbeiten durch seine Musik inspiriert wurde. Auf ausgedehnten Konzertreisen als Pianist, Organist und Diri gent errang er mit seinen Werken im In- und Ausland große Erfolge. Der 1873 in Brand (Bayern) als Sohn eines Lehrers geborene Komponist war Schüler von Hugo Riemann, der auch seine musikalischen Leitbilder wesentlich mitbcstimmte. Seit 1901 war er als Lehrer an der Akademie für Ton kunst in München tätig. 1907 wurde er Uni- vcrsitätsmusikdircktor und Kontrapunktlehrer am Konservatorium zu Leipzig. Eine Fülle von Klavier-, Kammer- und Orchesterwerken entstand und mehrte Regers Ruhm vor allem in Deutschland. 1908 ehrten die Universi täten Berlin, Jena und Heidelberg den Meister mit der Ernennung zum Professor und Ehrendoktor. Das Jahr 1911 brachte die Berufung zum Hofkapellmeister und General musikdirektor in Meiningen, wo er das seit Bülow und Steinbach berühmte Orchester zu internationalem Rang erhob. Von 1914 ab lebte er als Universitätsmusikdirektor in Jena bis zu seinem frühen Tode im Jahre 1916. Regers letzte Lebensjahre waren ausgcfüllt durch ein rastloses Schaffen, durch eine um fangreiche Lehr- und Konzerttätigkeit. Mehr als 150 Werke verschiedenster Gattungen hat der Komponist hinterlassen! Großartige Leistungen schuf er vor allem mit Orgel- und Kammermusikwerken, Klavierkompositioncn und auch mit einigen unvergänglichen Chor- und Orchesterwerken. Sein reichhaltiges Oeuvre steht nur in den Anfangsjahren unter dem Einfluß Wagners. Die intensive Beschäftigung mit der Orgel, der Unterricht bei dem Kontrapunktikcr Riemann, die Bekanntschaft mit Brahms, die Freundschaft zu dem Thomaskantor Karl Straube lassen die geistige Welt des Barocks wesentlich werden für das eigene Schaffen, das außer der Musikdramatik alle Gattungen umfaßt. Eine meisterhaft beherrschte Kontrapunktik verleiht seinen Werken in zunehmendem Maße Klarheit und Folgerich tigkeit des musikalischen Aufbaus. Dabei aber benutzt Reger alle harmonischen, melodi schen und instrumentatorischen Mittel seiner Zeit, ist also in seiner Sprache durchaus Romantiker, der jedoch der Gefahr der Schwülstigkcit, der Überhitzung, der Formlosig keit durch die Anwendung barocker Stilprinzipien in seinen besten Werken mit Erfolg be gegnet. Besonders seine letzten Quartette und seine großen Variationenwerke für Orche ster (nach Hiller und Mozart) bringen einen Beweis für die Gültigkeit der Symbiose, die Romantik und Barock im Schaffen Regers eingegangen sind. Sind die meisten Werke des Meisters auch ohne Programm entworfen, so war er doch in keinem Falle Gegner der Programmusik: „Jede Musik, ob absolut oder sinfonische Dichtung, ist mir willkommen, wenn sie eben Musik ist“, schrieb er einmal. So beweist er seine Meisterschaft auch in Werken programmatischen Charakters, wie in den haute erklingenden „Vier T' ondichtungen nach A. Böcklin“ op. 128. In dieser Komposition, die 1913, am Vorabend des ersten Weltkrieges entstand und schon zu den Ufern einer neuen Klassizität vorstößt, kommen Reger die reichen Erfah rungen auf dem Gebiet der Instrumentierung zugute, die er als Generalmusikdirektor in Meiningen hat machen können. Seine Tonsprache nähert sich - von seinem Standpunkt - der eines Impressionisten wie Debussy. Den malerischen Vorwürfen Arnold Böcklins (1827 - 1901) entsprechend, sind die vier Bilder mehr epischen als dramatischen Charak ters. Im ersten Stück „Der geigende Eremit“ bevorzugt Reger natürlich die Streicher: Über einem gedämpften und einem nicht gedämpften Streicherchor erhebt sich der ausdrucks volle Gesang der Solovioline. Häufige Steigerungen und Verminderungen des Tempos intensivieren das sehnsuchtsvolle Gebet, an dem die Holzbläser auf dem Höhepunkt An teil nehmen. Zart, wie das Stück begann, endet es auch. Gegensätzlich ist das zweite Bild „Im Spiel der Wellen“, wo man im bewegten Hin und Her romantisch sagenhafte Meeresbewohner wie Tritonen und Najaden sich tummeln sieht. In ständig sich auf und ab bewegenden Figuren der Holzbläser und Streicher schei nen die Wellen auf uns zuzukommen, Gischt spritzt auf, dann beruhigt sich das Meer wieder ein wenig. Erst am Schluß, in einem kleinen Adagio-Nachsatz, findet das har monisch bewegte Spiel ein Ende. Ganz auf romantische Stimmung ist der dritte Satz „Die Toteninsel“ gestellt. Nach einem gedämpften Beginn erheben Flöte und Englischhorn ihren traurigen Gesang. Schroff ragen Tuttiklänge heraus, gleich den Riffen der unheimlichen Insel. Trompeten und Hörner mahnen. Nach einer großen Steigerung endet auch dieser Satz im Pianissimoncbel. Einzig der letzte Satz „Bacchanal“ ist dramatischer Natur. In ihm setzt Reger alle in strumentatorischen, aber auch kontrapunktischcn Künste ein, um ein überzeugendes, wenn auch manchmal etwas lautstarkes Bacchusfcst musikalisch zu beschwören, wobei dem Schlagzeug besondere, oft solistische Aufgaben Zufällen. Regers einzige solistischen Vokalwerkc mit Orchester entstanden zur selben Zeit wie seine meisterlichsten Orchesterwerke. Sie zeigen die Bewährung seiner reifen Liedkunst auch in größeren Formen. Im August 1914 komponierte er den „Hymnus der Liebe“ für Alt und Orchester op. 136, dessen ernster Text (aus „Vom Geschlecht der Promethiden“