Volltext Seite (XML)
So wie ein gutes, ehrliches, vollendetes Handwerks stück aus bestem Material Bestand hat, hat die Musik von Johannes Brahms Bestand. Ganz abgesehen von ihrem „Inhalt“. Aber seine Musik hat auch ihren Inhalt, der nur in diesem treuen, meisterlichen Handwerk beschlossen ist — nicht nur beschlossen, sondern auch verschlössen. Man muß den Schlüssel zu ihm finden; Brahms, der das Volkslied in all seinen Dialekten so sehr geliebt hat, am meisten im deutschen, aber auch im ungarischen, slawischen Dialekt, macht es uns nicht immer leicht. Er ist ein Erbe, der Erbe einer ungeheuren Vergangenheit. Für Brahms spielt, außer Schumann (von dem er freilich gesagt hat, er habe von ihm nicht viel mehr gelernt als das Schachspiel), die Gegenwart kaum eine Rolle. Aber Schubert, der herr lichste aller Erfinder; Mozart, der so leicht Flachzuahmende und Unnachahmliche; noch mehr Haydn mit dem volkstümlichen Urquell der Erfindung; und vor allem Händel und vor allem Bach, bis zu Heinrich Schütz und den noch entlegener en Meistern des 16. und 15. Jahrhunderts. Brahms wußte es, daß er Erbe war. Nicht immer hat er Erbe sein wollen. Seine Anfänge waren Anfänge eines Sturms und Drangs; bis zu seinem Klavierkonzert in d-Moll ist er, Schumannisch gesprochen, ein „Beethovener“ gewesen. Der Leipziger Mißerfolg dieses Werkes hat ihn nicht gebrochen, aber er hat sein Innerstes verwandelt. Er weiß jetzt, daß es auf diesem großen Weg der Fbrtsetzung der Vergangenheit, dem der Gleich setzung mit den Großen nicht weiter geht. Immer wieder macht er den Schritt vom Trotz zur Resignation. Immer wieder den Schritt von der c-Moll-Sinfonie, die Bülow ob ihrer Monumentalität als die „Zehnte“ bezeichnete, über den pastoralen Frieden der in D-Dur, zur Dritten, zum unerbittlichen Schicksalsschluß der Vierten. Es gibt Stationen der reinen Seligkeit auf diesem Wege. Die frühen, Schubertischen Sextette, das späte, immer noch Schubertische G-Dur-Quintett. In allen Werken, seiner Sinfonik, seiner Kammermusik, seinem Lied, stehen solche Stationen des Glücks. Aber am Schluß kommen doch das Klarinetten-Quintett, die beiden Klarinetten-Sonaten, in-denen auch dies Glück nur noch doppelt ergreifende Erinnerung wird, Seligkeit der Vergangenheit, fast möchte man sagen, der entschwundenen, antiken Vergangenheit. Brahms war ein Humanist. Er stand zur Antike so wie Anselm Feuerbach, den er als Künstler und Mensch geliebt hat, und mit dem er, in einem zeitgeschichtlichen Sinn, zusammengehört. Schon Kalbeck, der poetisierende Biograph von Brahms, hat es an gedeutet (was unbeweisbar ist), daß der langsame Satz der e-Moll-Sinfonie vielleicht Nachklang, musikalische Formung des Eindrucks der Ruinen der Tempel von Paestum oder Selinunte ist. Der Traum von einem unwiederbringlichen, glücklicheren Dasein. Aber Brahms war ein deutscher Humanist. Und so bildet er auch in Liedern und Chören, in Klavierstücken und schöpferischen Bearbeitungen all die Kleinkunst fürs Haus, die zu seinem Bild gehört wie das große Werk der Sinfonien und Konzerte, der großen und kleinen Chorwerke. Brahms war, nochmals sei es gesagt, ein Erbe im höchsten Sinn. Er will aus dem Rahmen der Vergangenheit nicht heraustreten. Daß er ihn noch einmal, zum letztenmal schöpferisch erfüllen konnte, ist sein höchster Ruhm. Alfred Einstein JOHANNES BRAHMS