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ZUR EINFÜHRUNG Des 23jährigen Serge] Prokofjews Londoner Begegnung mit dem Ballett-Impresario Diaghilew, seinem „Russischen Ballett“ und Strawinskys „Feuervogel“, „Petruschka“ und „Frühlingsopfer“ löste den Plan aus, ein Ballett nach einem Sujet aus der russischen Sagen welt oder aus urgeschichtlicher Zeit zu schreiben. Nach Petersburg zurückgekehrt, begann er sofort, mit dem Schriftsteller Gorodetzki ein Ballettlibretto nach Motiven aus der russischen Vorgeschichte, der Zeit der Skythen, zu erarbeiten. „Es drängte mich, etwas Größeres zu schaffen. Strawinskys ,Sacre du Printemps* (Frühlingsopfer) hatte ich schon im Konzert gehört, aber nicht verstanden. Es war leicht möglich, daß ich ähnliches auf meine Art suchte“, heißt es in Prokofjews autobiographischen Aufzeichnungen. Folgende Grundzüge der Balletthandlung kristallisierten sich im Arbeitsprozeß heraus: Der Sonnengott Weles und der hölzerne Götze Ala sind die mächtigen, angebeteten Lieblingsgötter der Skythen. Eines Nachts versucht der schlaue Tschushbog, von den dunklen Mächten des Bösen unterstützt, die Statue Alas zu stehlen. Doch nur in der Dunkelheit läßt sich sein böses Werk vollenden — Licht zerstört die Zauberkraft der bösen Mächte. Der junge Krieger Lolli, der den Diebstahl bemerkt, eilt zur Rettung Alas herbei. Im Zweikampf mit dem Dieb gerät er in Lebensgefahr. Rechtzeitig erscheint jedoch Weles im blendenden Sonnen glanz. Die Strahlen der aufgehenden Sonne töten den bösen Tschushbog. Diaghilew gefielen weder diese Handlung, die deutlich das archaisch-mythische Vorbild von Strawinskys Ballett „Frühlingsopfer“ erkennen ließ, noch die bereits im Herbst 1914 vorliegende Klavierskizze der Musik. Er forderte ein anderes Werk aus der Feder des Komponisten, das dieser mit dem Ballett „Le Chout“ nach einem russischen Märchen lieferte. Während der Arbeit an diesem Stück sah Prokofjew im Sommer 1915 die Musik zu „Ala und Lolli“ durch und fand sie wertvoll genug, sie nicht im Schreibtisch ver schwinden zu lassen. „. . . Es gelang mir, die Musik so zusammenzustellen, daß daraus die viersätzige ,Skythische Suite' wurde, deren Handlungsablauf der gleiche war wie in dem nicht zustandegekommenen Ballett. Die Instrumentierung beherrschte ich bereits in ge nügendem Maße, um mich an ein großes Orchester zu wagen und meinen Ideen musikali sche Gestalt zu verleihen . ..“, lesen wir in Prokofjews Autobiographie. Die „Skythische Suite“ wurde die erste großangelegte Komposition des jungen Kompo nisten, in der er mit brillanter Technik und farbenreicher Klangpalette einen riesigen Orchesterapparat (u. a. acht Hörner, fünf Trompeten, verstärkte Holzbläser, Kesselpauke, Klavier, Celesta, Harfe und ein reich bestücktes Schlagwerk) zum Einsatz brachte. Die künstlerische Kraft und Originalität der Partitur vor allem in den beiden letzten Sätzen, die Kühnheit und Härte der harmonischen Sprache, die elementare Schönheit des Sonnen aufganges (im Finale) wurden von dem konservativen, zumeist aristokratischen Publikum, das der Uraufführung der Suite am 16. Januar 1916 in Petersburg beiwohnte, nicht richtig verstanden. Es kam zu einem großen Skandal; Prokofjew wurde — in der Presse - eines musikalischen Rowdytums bezichtigt, als Futurist bezeichnet usw. Jedoch schon kurze Zeit später setzte sich das Werk, in dem unverkennbar die Stimme der Revolution tönt, „die gegen die Überlebtheit einer alten Welt protestiert“ (Assafjew), in Rußland und im Aus land durch. „In diesem Werk fühlt man das erste Anzeichen, daß die russische Musik den Weg zum Licht gefunden hat, den Weg zur strahlenden Freude und ungetrübten Glück seligkeit. Man findet diesen Weg durch das Bewußtwerden der schöpferischen Kraft. Die zeitgenössische russische Musik hat das Erreichen dieses Wendepunktes vorausgenommen“ (Assafjew). Die „Skythische Suite“ ist nicht nach klassischen Formgesetzen aufgebaut, sondern sie ist vielmehr auf einen ständigen Wechsel von leuchtkräftigen Bildern, „Schichten“ und Epi soden bedacht. Der erste Satz (Die Anbetung von Weles und Ala) beginnt mit eindring lichen Beschwörungsphrasen. Dann entsteht der Eindruck groben Stampfens, schwerfälli gen Tanzens. Auf dem Höhepunkt erklingt in aggressiven Akkorden, von acht Hörnern und vier Posaunen geblasen, der Hauptgedanke. Kontrastierend ist der zweite Abschnitt des weich verlöschenden Satzes angelegt mit seiner orientalisch anmutenden Flöten melodie über wiegenden Rhythmen von Celesta und Harfe. - „Tschushbog und der Tanz der bösen Geister“ ist der zweite Satz überschrieben. Kriegerische, grausam-mechanische Rhythmen ertönen, das Horn stimmt ein energisches Signalthema an. Der Marsch bewegung folgt ein wilder, barbarischer Tanz mit kurzatmigen Melodiefctzen und mit motorisch stampfender Bewegung. - „Nacht“-Stimmung in der Steppenlandschaft malt mit fast impressionistischen Mitteln der dritte Satz, dessen träumerische Klänge durch scharfe Alarmrufe unterbrochen werden. - Im betörend-klangvollen Finale (Lollis Marsch und die Sonnen-Prozession) lösen sich immer wieder phantastische Episoden von heidnisch tänzerischem oder marschartigem Charakter ab, bis schließlich der Höhepunkt erreicht wird im ergreifenden, dynamischen Bild des Sonnenaufganges — Symbol einer neuen Welt des Lichtes. Das musikalische Geschehen schwillt zu riesiger Klangfülle an, immer mehr Instrumentengruppen werden einbezogen. Über allem schwebt der Ton von fünf Trom peten. Dieses eindrucksvolle Naturbild gehört neben der mitreißenden, elementaren Rhythmik zu den stärksten Seiten der „Skythischen Suite“, die man fraglos zu den bedeu tendsten Schöpfungen Prokofjews rechnen muß. Neben dem Frühwerk der „Skythischen Suite“, die vor allem von rhythmischen, motori schen Kräften getragen wird, steht im heutigen Programm eine der zauberhaftesten und populärsten Schöpfungen aus der mittleren Schaffensperiode des Meisters, die seine große lyrische und melodische Begabung wie seinen Humor ausweist: die Kinder wie Er wachsene immer wieder gleichermaßen entzückende sinfonische Erzählung „Peter und der Wolf“ für eine Sprechstimme und Orchester op. 67, die am 2. Mai 1936 in der Moskauer Philharmonie unter Prokofjews Leitung erfolgreich uraufgeführt wurde. Die Wendung vom Ekstatisch-Komplizierten zum Maßvoll-Einfachen, die sich hier ausdrückt, ist evident. Der Komponist verfaßte den Text des Märchens selbst. Es wird die Geschichte des kleinen Jungen Peter erzählt, der ein großer Tierfreund ist und gegen den Willen seines Großvaters auf Jagd zieht gegen den Wolf, den Feind schwächerer Tiere wie Ente, Katze und Vogel. Peter gelingt es sogar, den Wüterich lebend zu fangen. Den herbeieilenden Jägern bleibt nichts weiter zu tun übrig, als den Wolf in den Zoo zu bringen. Prokofjew hatte sich mit diesem Werk die pädagogische Aufgabe gestellt, junge Menschen in vergnüglicher Form mit den Instrumenten eines Sinfonieorchesters vertraut zu machen. Der Märchen text wird von einem Sprecher vorgetragen, während das Orchester mit charakteristischen Instrumenten und ausdrucksvollen, prägnanten Melodien, Leitthemen, den Inhalt der gesprochenen Erzählung musikalisch interpretiert und untermalt. „Jede handelnde Person dieses Märchens wird im Orchester von dem ihr zugedachten Instru ment dargestellt: der Vogel von der Flöte, die Ente von der Oboe, die Katze von der Klarinette, der Großvater vom Fagott, der Wolf von den Waldhörnern, Peter von einem Streichquartett, die Schüsse der Jäger durch Pauken und große Trommel“ (Prokofjew). Die den einzelnen Handlungsträgern leitmotivartig zugewiesenen Themen bestimmen den Aufbau der dreiteiligen Komposition (1. Aufstellung der Themen — 2. dramatische Durch führung - Peters Kampf mit dem Wolf - 3. Triumphmarsch — Wiederkehr der Themen). Die Leitmotive werden entsprechend der Situation verwandelt. Mit einfachsten Mitteln schildert der Komponist die verschiedenen Stimmungen. Assafjew rühmte das Werk als einen „wesentlichen Schritt Prokofjews zum Realismus in der Musik. Man fragt sich, ob es nicht die Elemente einer neuen sowjetischen Sinfonik enthält, ohne individualistische, individuelle Psychoanalyse und auch ohne tragisch-pessimistische Auffassung der Wirk lichkeit.“ Diesen Weg schlug der Komponist in seiner Sinfonik erst mit der 5. Sinfonie zielbewußt ein und erreichte den Höhepunkt in seiner letzten, der 7. Sinfonie op. 131 aus dem Jahre 1952 - einem der bedeutendsten Werke seiner späten Schaffenszeit und das letzte, das er noch — schon als Schwerkranker — vollenden konnte. Die Uraufführung fand am 11. Oktober 1952 in Moskau statt und wurde ein großer Erfolg. „Die 7. Sinfonie ist ein