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„Kann ein Künstler abseits vom Leben stehen? Kann er sich in einem Elfenbeinturm ver schließen, oder muß er dort sein, wo er gebraucht wird, wo sein Wort, seine Musik, sein Meißel dem Volk helfen können, besser und schöner zu leben? Ich halte an der Über zeugung fest, daß der Komponist, ebenso wie der Dichter, der Bildhauer und der Maler, berufen ist, dem Menschen und dem Volk zu dienen. Er muß das menschliche Leben ver schönen und verteidigen helfen. Er ist vor allem verpflichtet, ein Bürger in seiner Kunst zu sein, das menschliche Leben zu besingen und den Menschen einer lichten “Zukunft entgegen zuführen. Das ist von meinem Standpunkt aus der unveränderliche Kodex der Kunst.“ Sergej Prokofjew Sergej Prokofjew ist neben Dmitri Schostakowitsch und Aram Chatschaturjan einer der stärksten Exponenten der sowjetischen Musik. 1891 in Sonzowka (Donbass) geboren, zeigte er schon frühzeitig Äußerungen eines außerordentlichen musikalischen Talentes, das von der Mutter - einer guten Klavierspielerin - sorgsam gefördert wurde. Der Tschaikowski-Schüler Alexander Tanejew erkannte als erster die Begabung des jungen Prokofjew und veranlaßte ihn, bei Reinhold Gliere Unterricht zu nehmen. Arbeiten dieser Zeit, darunter schon ein Operneinakter, verschafften dem angehenden jungen Musiker einen Studienplatz in dem von Alexander Glasunow geleiteten Konservatorium in Peters burg. Hier war er u. a. Kompositionsschüler von Nikolai Rimski-Korsakow und Anatol Ljadow. 1914, kurz vor Ausbruch des ersten Weltkrieges, begab sich Prokofjew, der sich neben seinem Kompositionsstudium zu einem hervorragenden Pianisten entwickelt hatte, auf Konzertreisen. Zuerst ging er nach London, 1915 nach Rom, wo er zwei bedeutsame Begegnungen hatte, die ihn zu künstlerischen Auseinandersetzungen verschiedenster Art anregten: das Zusammentreffen mit dem berühmten Ballett-Impresario Diaghilew, der ihm spontan Aufträge für Ballettmusiken erteilte, und - in übertragenem Sinne - die Berührung mit der zeitgenössischen europäischen Musik. Im Jahre 1917 entstand seine „Klassische Sinfonie“, die vornehmlich den Namen Prokofjews in der musikalischen Welt bekannt machte, obwohl ihre unbeschwerte, graziös-kecke Klangwelt nur einen Wesensteil des Komponisten ausdrückt: seine wahrhaft klassische Haltung. Nach 1917 folgten Jahre des Umherirrens, der unsteten Wanderschaft durch die Musik zentren Europas und Amerikas, die dem als ausgezeichneten Konzertpianisten ebenso wie als originellen Komponisten begehrten Prokofjew alle äußeren Erfolge und Ehrungen einbrachten, ihm aber innerlich trotz vieler Anregungen und Möglichkeiten nicht letzte Erfüllung schenkten. Die Jahre in der Fremde ließen in ihm die Erkenntnis entstehen, daß der Künstler „nicht fern den heimatlichen Quellen herumschweifen“ sollte. Einem französischen Freunde bekannte er, zutiefst davon bedrückt, daß ihm die Anerkennung des Auslandes nicht den Beifall seiner Landsleute ersetzen könne, folgendes: „Die Luft der Fremde bekommt meiner Inspiration nicht, weil ich Russe bin, und das Unbekömmlichste für einen Menschen wie mich ist es, im Exil zu leben, in einem seelischen Klima zu bleiben, das meiner Rasse nicht entspricht. Ich muß zurück. Ich muß wieder wirkliche Winter sehen und den Frühling, der ausbricht von einem Augenblick zum anderen. Ich muß die russische Sprache in meinem Ohr widerhallen hören, ich muß mit den Leuten reden, die von meinem eigenen Fleisch und Blut sind, damit sie mir etwas zurückgeben, was mir hier fehlt: ihre Lieder, meine Lieder. Hier werde ich entnervt. Ich bin in Gefahr, an Akademismus zugrunde zu gehen. Ja, mein Freund, ich gehe zurück.“ Was 1927 und 1929 anläßlich von Konzertreisen noch tastender Versuch geblieben war, im Jahre 1934 wurde es Wirklichkeit: Sergej Prokofjew kehrte in seine Heimat, in die Sowjetunion, zurück und legte damit jenes künstlerische Bekenntnis zu den nationalen Traditionen der russischen Musik ab, wie es vorher Glinka, Tschaikowski, Mussorgski, Rimski-Korsakow und auch schon Dmitri Schostakowitsch getan hatten. Für Prokofjews schöpferische Entwicklung gewann die Rückkehr in die Heimat große Be deutung, denn hier hatte sich - nach der sozialistischen Oktoberrevolution - das Musik leben entscheidend gewandelt. Die Komponisten erhielten staatlicherseits jede denkbar mögliche materielle Unterstützung und konnten sich sorgenlos ihrer Arbeit widmen. In Pro- Sergej Prokofjew 1947 kofjews Schaffen begann sich angesichts dieser künstlerischen Situation jene Wandlung zu vollziehen, die in ähnlicher Weise (wenn auch unter anderen Bedingungen) beispiels weise Paul Hindemith und Bela Bartok erlebt hatten: die Wendung vom Ekstatisch- Komplizierten zum Maßvoll-Einfachen, zum neuen Ordnungsgesetz, wobei Prokofjew außerdem, nicht zuletzt durch seine Beschäftigung mit der Folklore, den Weg zum natio nalen Komponisten fand, für den besonders die Melodik mehr und mehr zum wichtigsten musikalischen Element wurde. Seine Melodik ist — etwa in den beiden langsamen Sätzen der bekannten 5. Sinfonie oder im 1. Violinkonzert D-Dur — eingängig, bestechend natür lich und trotz mancher träumerischer Neigung prägnant. Welche Fülle von Emotionen wird beispielsweise in dem Ballett „Romeo und Julia“, einem der Hauptwerke des sowjetischen Meisters, ganz einfach melodisch ausgedrückt. Von der Bedeutung der Melodik für Prokofjews Schaffen ist es kein weiter Schritt zum Wesen seiner Kunst, die in starkem Maße Ausdruck seiner kräftigen, lebensbejahenden Persönlichkeit ist. Prokofjew ist vielseitig — sein umfangreiches Gesamtwerk, das noch bis zum Todesjahr 1953 wesentlich erweitert wurde, bestätigt es. Einfallsreichtum charakteri siert seine Musik, die sich häufig zwischen den Polen „kontrastreiche Lyrik — elementare Rhythmik — skurrile Ironie“ bewegt. Die Lyrik hat in den meisten seiner Werke, die betont motorischen ausgenommen, einen wesentlichen Platz. Umfassend waren Prokofjews schöpferische Leistungen. Sieben Sinfonien, zahlreiche Konzerte, Kammermusikwerke, Gebrauchsmusik, Bühnen- und Filmmusiken, sieben Ballette (u. a. „Aschenbrödel“, „Die steinerne Blume“) und acht Opern umfaßt dieses reiche Lebenswerk, das auch bei uns noch vollständiger gepflegt werden sollte. Denn: Sergej Prokofjew gehört unbestritten zu den Großen der Musik unserer Zeit.