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ZUR EIN FÜHRUNG Am Beginn unseres heutigen „Mythologischen Abends" steht ein Werk von Nationalpreisträger Rudolf Wagner-Regeny, einem der prominente sten Komponisten unserer Republik und darüberhinaus einem der bedeutend sten Vertreter deutscher Gegenwartsmusik, der am 28. August 1968 65 Jahre alt wurde. Wagner-Regeny war Schüler von Koch, Reznicek, Ochs und Krasselt in Berlin. Mit Rudolf von Laban und dessen Tanzgruppe reiste er als Komponist und Kapellmeister in den 20er Jahren durch zahlreiche Länder Europas. 1928 ließ er sich als Komponist in Berlin nieder. In Zusammenarbeit mit Caspar Neher entstanden seine bedeutendsten Bühnenwerke: „Der Günstling" (1935 an der Staatsoper Dresden uraufgeführt), „Die Bürger von Calais" (1939), „Johanna Balk" (1941), die dem zeitgenössischen Musiktheater entscheidende Impulse verliehen. 1946 bis 1950 leitete Wagner-Regeny als Rektor die Rostocker Musik hochschule. Seitdem lebt und wirkt er wieder in Berlin als Mitglied der Deut schen Akademie der Künste und in den Jahren 1950 bis 1968 als Professor für Komposition an der Deutschen Hochschule für Musik. Nachdem der Komponist in seinen musikdramatischen Hauptwerken einen Stil von persönlicher Eigen art ausgebildet hatte, dessen Merkmale ein herbes, entsinnlichtes Satzgefüge, eine durchsichtige Instrumentation bei schlagkräftiger Melodik sind, wandte er sich mit dem szenischen Oratorium „Prometheus" (1959) und der Hofmanns- thal-Oper „Das Bergwerk zu Falun" (1961) auch der Zwölftontechnik zu. Wagner-Regeny schrieb neben seinen Bühnenwerken, die den Schwerpunkt seines Oeuvres bilden, verschiedene Orchester- und Kammermusikwerke, Kan- toten, Klavierstücke und Lieder. Nachdem die Dresdner Philharmonie bereits 1966 die Kantate „Schir Haschirim“ uraufführte, wird das Orchester im nächsten Jahre erneut eine Kantate des Komponisten zur Uraufführung bringen, die im Auftrag des Institutes entstand: „An die Sonne". Die „Mythologischen Figurinen", 1951 komponiert, am 31. Januar 1952 von der Berliner Staatskapelle unter Karl Egon Glückselig uraufgeführt und am 21. Juni desselben Jahres anläßlich des Internationalen Musikfestes der IGNM vom Concertgebouw-Orchester Amsterdam unter Frans Andre inter pretiert, stellen Wagner-Regenys erste Zwölftonorchesterstücke und gleichsam „Vorstudien" zur Oper „Das Bergwerk zu Falun" dar, nachdem der Komponist bereits in einigen Klavier- und Kammermusikstücken mit der dodekaphonen Setzweise vertraut geworden war. Es handelt sich um drei kurze, zyklisch ange ordnete Sätze für mittleres Orchester, deren wechselnde Idividualität durch drei Gestalten aus der griechischen Mythologie bestimmt wird: „Ceres“, „Amphitrite" und „Diana“. Wagner-Regenys Musik versucht, mit ihren Mitteln die kontrastreiche Wesenheit der drei „mythologischen Figurinen" in ihren Ausdrucksbereich zu übertragen (wobei eine tänzerische Ausdeutung als Ballet blanc den Inhalt des Werkes auch sichtbar machen könnte). Der Komposition liegt eine Reihe zugrunde, aus deren Material unter Einbeziehung rhythmisch belebender variabler Metren die eigenständigen Klangformeln des Stückes entwickelt werden, das mit seinen beinahe impressionistisch gefärbten „Durch führungen", den gelegentlichen Kadenzwirkungen nicht eben schwerverständ lich, jedoch auch nicht sofort eingängig ist. Der erste Satz zeichnet bei mäßigem Zeitmaß Charakter und Temperament der Ceres, der Göttin der Feldfrüchte. Ein aus der Grundreihe mit variabler Metrik prägnant geformtes Thema, das zuerst vom Fagott angestimmt wird, steht am Beginn. Dann erscheinen die zwölf Töne aufgespalten bei komplementärer Rhythmik in den Violinen, worauf anschließend die Reihe in ihrer Grundgestalt von den Blechbläsern in nur zwei Takten gebracht wird. Auf dem Orgelpunkt C entfaltet sich danach die Umkehrung der Reihe in den Holzbläsern. In entspre chender Weise entwickelt sich das gesamte Werk. Schildert der erste Satz das bukolische, heiter-fröhliche Wesen der Ceres, bringt der sehr langsame zweite Satz eine Charakteristik der Göttin Amphitrite. Der Ausdruck ist weichgetönt, ja ätherisch unter bezeichnender Verwendung des Glockenklangs. Ziemlich ge schwind, aber streng gehalten, jagdhaft ist der dritte Satz, Diana, der Göttin der Jagd, gewidmet. Wagner-Regeny wurde zu diesen drei „Tänzen für Orche ster“ von Figurinen aus „Le Pantheon", Paris 1796, angeregt. Es ist eine spröd verhaltene Ausdruckskunst von durchaus theatermäßiger Wirksamkeit. Die griechische Sage von der kretischen Königstochter Ariadne, die, nachdem sie dem Helden Theseus bei einem seiner großen Abenteuer beigestanden hatte und mit ihm geflohen war, von diesem auf der Insel Naxos verlassen wurde, reizte Dichter und Komponisten der verschiedensten Zeiten immer wieder zu künstlerischer Gestaltung. Joseph Haydn inspirierte dieser Stoff zu einem seiner bedeutendsten Vokalwerke: der italienischen Solokantate „Arianna a Naxos". Ursprünglich für Gesang und Klavier geschrieben, ist diese Kantate doch so offensichtlich orchestral empfunden, daß eine (von Ernst Frank vorgenommene) Orchesterbearbeitung, in der das Stück auch in unserem Konzert erklingt, durchaus gerechtfertigt erschien. Das 1790 entstandene Werk wurde, vom Komponisten selbst begleitet, bei dessen erstem England- Aufenthalt 1791 in London mit dem Kastraten Gasparo Pacchierotti als Solisten uraufgeführt und erzielte sogleich einen sehr großen Erfolg. So schrieb die Londoner Zeitung „Morning Chronicle": „Alle sind sich darüber einig, daß diese Haydnsche Kantate das Ereignis des Winters ist". Italienische Klangschönheit verbindet sich in diesem Werk mit der dramatischen Kraft und der inneren Wahrhaftigkeit Glucks. Formal liegt das Schwergewicht der Kantate in den ausgedehnten, dramatisch hochgespannten rezitativischen Teilen, die zuweilen selbst den Arienverlauf unterbrechen. In der musikalischen Charakterisierung des Textes offenbart sich Haydns starke Begabung für die Schilderung seelischer Zustände; psychologisch wahrheitsgetreu werden mit sparsamen musikalischen Mitteln alle Regungen der von ihrem Geliebten verlassenen Ariadne nachge zeichnet. Claudio Monteverdi ist der erste geniale Musikdramatiker der europä ischen Musikgeschichte. 1567 in Cremona in Italien geboren, erlebte er die Anfänge der Gattung Oper um 1600 in Florenz und wurde der Komponist, der die neugeschaffene musikalische Gattung zu einem echten Kunstwerk der Menschengestaltung erhob. Er studierte bei Marc Antonio Ingegneri, einem bedeutenden Komponisten des 16. Jahrhunderts. 1600 erhielt er eine Anstellung als Sänger und Geiger, dann als Kapellmeister am Hofe zu Mantua. Hier ent standen seine berühmten Opern „Orfeo" und „Arianna". 1612 ging Monte verdi als Kapellmeister an die San-Marco-Kirche zu Venedig. Neben Kirchen werken widmete er sich weiterhin dem Opernschaffen. Als letzte Opern des Meisters entstanden 1641 „Die Heimkehr des Odysseus" und 1642 „Die Krö nung der Poppea". 1643 verstarb Monteverdi in Venedig. Konsequent stellte er in seinen Opern die Musik in den Dienst der dramatischen Idee und half — im Sinne des aufstrebenden Bürgertums seiner Zeit — die Befreiung des mensch lichen Gefühlslebens aus kirchlicher und feudaler Bindung voranzutreiben. Seine musikalischen Mittel, die gleichsam einen Querschnitt durch das progres sive Musikschaffen jener Zeit bieten, sind von unerhörtem Reichtum und vor- wärtsweisender Bedeutung. In seinen Dramen „per musica“ finden sich die verschiedensten Formen, ausdrucksstarke Ariosi, kleine Arien, Duette, Terzette, Chöre in homophonen und kunstvollen Madrigalsätzen, selbständige Instru mentalsätze, aber immer zu einem großartigen künstlerischen Ganzen geord net. Typisch sind für Monteverdis aus Renaissancegesinnung hervorgewachsene Tonsprache vor allem seine ungewöhnlich kühne Harmonik und expressive Melodik. Leider ist das Opernschaffen des Komponisten nur lückenhaft erhalten geblieben. Von seiner zweiten, 1608 für Hochzeitsfeierlichkieten am Hofe von Mantua ent standenen Oper „Arianna" ist uns außer dem Textbuch als einziges musikali sches Bruchstück lediglich der weltberühmt gewordene „Lamento d'Arianna" die Klage der von Theseus grausam Verlassenen, überliefert (also eine musi kalische Darstellung der gleichen Situation, die auch der fast zwei Jahrhunderte später komponierten Haydnschen Kantate zugrundeliegt). Doch geht aus zeit genössischen Berichten hervor, daß eben dieser Teil der Oper, ein Musikstück von großartiger dramatischer Wucht, Kühnheit und Eindringlichkeit, den starken Erfolg des Werkes entscheidend bestimmte. Daß Monteverdi selbst gerade die Musik dieser großen Soloszene besonders nahestand, beweisen (neben zahl reichen das Werk betreffenden Briefstellen) zwei bedeutsame spätere Bear beitungen des „Lamentos", die er geschaffen hat: ein fünfstimmiges a-cappella- Madrigal und eine geistliche Parodie als „Marienklage".