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stellen, fernstehen wollen (seine „Kinder totenlieder“, sein „Lied von der Erde“, sein „Fahrender Geselle“ werden ja wohl kaum Gegner haben), anerkennen. Mag die Zu kunft jene Erfüllung des Mahlerschen Sehnens bringen oder nicht — das ist ge wiß, daß Mahler als Schaffender ein ehr lich Ringender war, einer, der die höchsten Ziele der Kunst, die höchsten Gipfel der Entwicklung vor Augen sah. — Gustao Mahler wurde im Jahre 1860 — also vor 70 Jahren — in dem böhmischen Dorfe Kalischt an der mährischen Grenze geboren. Mit 15 Jahren ging er an das Wiener Konservatorium, wo er sidi bald alle möglichen Erste Preise holte. Bald bil dete er in Wien den Mittelpunkt eines Kreises von jungen Intellektuellen, die sich alle gern dem Zauber seiner faszinierenden Persönlichkeit und seines wundervollen Klavierspiels Eingaben. Es folgen Wander jahre: Laibach, Olmtitz, Kassel, von wo ihn Angelo Neumann nadi Prag holt. Dann Leipzig (mit Nikisdi zusammen) und Ooerndirektor in Pest. 1891 steht er an der Spitze der Hamburger Oper. Und dann zehn Jahre Wien — die Glanzzeit der Hof oper. 1907 ruft ihn Amerika. Schwer er krankt reist er zur Heimat zurück, wo er in seinem geliebten Wien am 19. Mai 1911 verschied. Die »Tragische« Sechste in A-Moll W * b i m ä Bei einer der Proben der „Sechsten“ in Essen (vor der Uraufführung) erklärte Mahler, warum er im „misterioso“ „Stimmung durch Herdenglocken“ machte: es komme ihm durdiaus nicht darauf an, mit den Glocken irgendwie tonmalerisch das Bild einer Kuh- oder Schafherde dem Hörer vorzuzaubern. Er wolle vielmehr damit nur „ein ganz aus weitester Ferne erklingendes, verhallendes Erdengeräusch" charakterisieren. Jene Stelle des Werkes erscheine ihm so, als ob er „auf hödistem Gipfel im Angesicht der Ewigkeit“ stehe. Und wie „denn auf Bergeshöhe Wandeln den als letzter Gruß lelyender Wesen nur noch der verklingende Ton fern weidender Herden herauftönt, so erscheine ihm auch jener ivlang als einzig geeignet zur Syni- bolisierung weltferner Einsamkeit“. Diese Aeufieruug Mahlers läßt erkennen, in welchem Geiste er seine Werke sdiuf. Einzig die Verwirklichung seines künst lerischen Ideals erschien ihm erstrebens wert. Das Streben nach (bei seinen hoch geschraubten Ansprüchen) kaum erreich baren idealen Höhen war ihm das Wert vollste seines Erdendaseins. So wie Lessing einst sagte: „Wenn Gott ihm die Wahl lasse zwischen ewigem Streben nach Wahr heit und dem Besitz der Wahrheit selbst, so wähle er unbedingt das erstere“, so mochte auch Mahler, den Nimmer-Rasten- den, das Streben zur Höhe seines Ideals wertvoller dünken als dessen zufriedener Besitz. In der Sechsten Sinfonie tritt diese seelische Einstellung am „Mahlerischsten“ hervor: eine schicksalsschwere, kämpferische Stimmung (Mahler nennt die Sinfonie jtU seiest „Die Tragische“), voll Herbigkeit unt^ düsterer Glut, ohne jeden optimistischen Ausklang, stellt sie dem üblichen Typus der „per aspera ad asfra“-Sinfcmie den „Kampf zum Untergang“ entgegen Kein Lichtblick fällt in sie hinein, kein Ton der Liebe, der Güte und des Mitleidens er klingt in ihr, niemals erhellt sich in ihr die gedrückte Atmosphäre. Der charakteristische Titel „Die Tra- gisdie“ ist aber eigentlich nur bis zu einem bedingten Maße berechtigt. Denn wenn auch der Held (Mahler selbst) in dieser Sinfonie an den Widerständen der Materie und an den Einwirkungen von außen zer- bridit, so triumphiert dodi die geistige Idee oberhalb der Tragik des Einzelfalles. Sie lebt — trotz der zermalmenden Hammerschläge und des katastrophalen Abschlusses der Sinfonie — weiter und sie führt den Schöpfer dieser Sinfonie in die bejahenden und durchaus nicht pessimisti schen Bezirke der folgenden, aus der Ein samkeitssphäre der „Sechsten“ wieder zu den Menschen zurückkehrenden und die Menschheit segnenden Schlußwerke Mahlers.. Als Einzelerscheinung kann man diese* VI. Sinfonie kaum richtig einschätzen und entsprechend bewerten — nur im Zu sammenhang mit dem Gesamtschaffen Mahlers ist sie zu verstehen. Denn er schrien sie in einer Zeit, als er sein idea listisches Streben bittersten Kränkungen und ungerechten Vorwürfen ausgesetzt sali. Nur eine solche Erkenntnis gibt uns Au f- semüsse über das Autobiographische dieses Hiesenmerkes. Und nur aus solcher Er kenntnis heraus erwächst uns Verstellen und Teilnahme für den „Ausmarsch“ des ersten Satzes, für des Helden „Weltflucht“ in diesem Abschnitt, der jenen von der vVelt wegführt dorthin, wo ihn nur das Geläut der Herdenglocken erreicht — das