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seinen späteren Werken mehr westeuro päischen als national-rassischen Ideen sich zuineigte. Aber mit ihm entwickelte sich seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts — erst in offenbarer Anlehnung an west europäische Vorbilder (eben Tschai- kowsky), dann sich mehr und mehr auf sich selbst besinnend und eigene Probleme ergreifend — eine eigene ausgesprochen nationale russische Musik, die überraschend schnell im Erfassen des Stimmungsgehalts und in der Anwendung überkommener und neuer Formen selbständig dasteht. Für die, die sich eindringlicher mit Ruß lands Kultur beschäftigen, ist die vielver- hreitete Idee längst aufgegeben, als wären die Russen eine zwar stark begabte Rasse, der aber formende Kräfte zur zielsicheren Auswirkung fehlten. Das Wort Goethes an der Spitze dieser Zeilen möge in diesem Sinne verstanden werden. Vor dem Kriege bereits war das Inter esse des deutschen Publikums an russischer Musik in ständigem Wachsen begriffen, bis — begreiflicherweise — das Jahr 1914 und die folgenden eine Beschränkung auf unsere eigene Kunst forderten. Inzwischen haben sich die verheißungsvollen Anfänge der russischen Musik des vorigen Jahr hunderts kräftig weiterentwickelt. Und die letzten Jahre brachten auch in Deutsch land immer mehr Aufführungen von russi schen Sinfonien und Opern. Die Sin fonien und Suiten Tschaikomskys sind ständige Nummern der Konzertprogramme. Sein „Onegin“ und Mussorgskys „Godu- now“ gehören zum Spielplan namhafter deutscher Opernbühnen. Rubinsteins Lie der hört man immer noch. Skrijabins Sin fonien werden mehr und mehr anfgefülirt. Straroinskys Opern und Orchesterstücke werden mit größtem Erfolg gegeben. Ge rade in bezug auf die Musik der Neu russen hört man im Publikum oft die Meinung, als wäre alle neuere russische Kunst ohne weiteres dem Bolschewismus gleichzusetzen, während sie in Wirklich keit schon in der Mitte des vorigen Jahr hunderts national begonnen hat und bis heute national geblieben ist. *** Igor Straminsky und sein „Feueroogel“ Bis 1915 — seinem Tode — war Ale xander Skrijabin der Beherrscher der neuen russischen Musikwelt. Herber Geist, neuartige Erfassung von Stimmungen, ty pische Rhythmik, originelle Harmonien und bizarre Stimmführung sind seine cha- rakteristisdien Komponistenmerkmale. Un ter der völligen, fast zehn Jahre nach sei nem Tode noch anhaltenden Absperrung Rußlands vom Auslande hatte sich dort eine Art Skrijabinismus gezeigt. Jetzt hat sich drüben eine neue Richtung ent wickelt, die von Skrijabin weg will. Sie versudit, der „Romantik“ Skrijabins einen „Klassizismus“ gegenüberzustellen. Obwohl die beiden Inspiratoren dieses „Klassizis mus“, Straminsky und Prokofieff, ständig im Auslände leben. Dieser Klassizismus, der nidits weniger ist, als das, was man unter dieser Devise bei uns zu verstehen geneigt wäre, möchte — im Gegensatz zu dem von überwallenden Gefühlen und elementaren Ausbriidien beherrschten Skri jabin — strenge, technisch ernste Formen mit origineller Thematik vereinigen. Man kann Straminsky nicht verstehen, wenn man ihn vom Gesichtspunkt deut scher Musikkultur 'betrachtet. Und nur aus der heftigen Auflehnung gegen diese, die durch den Weltkrieg geschürt wurde, erklärt sich seine neue, beherrschende Macht. Strawinskys Saat ist so üppig auf geschossen, weil die früher von der deut schen Musik gelieferten Maßstäbe als nicht mehr gültig betrachtet wurden, weil man annahm, nach dem „deutschen System“ nicht mehr fruchtbar komponieren zu kön nen. Und so kommt es, daß heute Stra- winsky die blendendste Erscheinung der ausländischen Musik geworden ist, daß sidi der Begriff des Unromantischen mit ihm entscheidend durchgesetzt hat. Selbst in Frankreich hat — nadi Debussys Tode und Ravels „Bekehrung“ zum Klassischen — das Russische in Strawinsky die Oberhand gewonnen. In der deutschen Musik kultur zog Arnold Schönberg zwar ähn- lidie letzte, kühnste Schlußfolgerungen, konnte sich aber im eigenen Lande nicht in gleidistarkem Grade durchsetzen wie Strawinsky in der ganzen Welt. Aller dings — seltsam genug — dieses „Russi- sdie“ Strawinskys wird von den Russen selbst nicht als russisdi, sondern als west europäisch empfunden. Es geht Stra winsky wie Tsdiaikowsky: das Erzeugnis der Rasse wädist durch die eigene schöpfe rische Kraft über das Russische hinaus. Strawinsky hat unter Rimsky Korsa- koff auf dem Petersburger Konservatorium studiert. Es streifte ihn dort der Hauch aller Richtungen: Akademisches und Kolo ristisches, Sinfonie und sinfonische Dich tung, Wagner und schließlich Debussy tra fen ihn. Aber der bohrende Erfinder Stra winsky geht auf ein anderes Ziel. Ihm entfallen alle Folgerungen der Musik des 19. Jahrhunderts. Mag auch — wie gerade sein „Feuervogel“ beweist — die Begabung für besdiredbende, koloristische Musik außerordentlich stark sein: sein spekula tiver Geist will durchaus Neues schaffen. Und er findet auch rasch die Formel für