Volltext Seite (XML)
sondern deren zwei hätte. In der Tat hat das Cello-Instrument vor der Violine die bessere Behandlung erfahren. Am kunstreichsten ist der erste Satz mit seinen kapriziösen rhythmischen Tüfteleien gestaltet. Mehr Freude gewährt dem Laien die liebliche Idyllenstimmung des zweiten Satzes, während die etwas verdrießliche nervöse Unruh« am Anfang des dritten Satzes und die folgende schwerfließende Bewegung geeignet ist, die von Laien öfters zu hörende Behauptung der Sprödigkeit Brahms’scher Musik nicht gerade zu entkräften. Im 44. Lebensjahre, also verhältnismäßig spät, schreibt Brahms seine Erste Sinfonie in C-Moll (Werk 68). Es waren aber schon Werke sinfonischen Charakters vorhergegangen, sodaß außer der Lebensreife auch ein gereiftes technisches Können die erste Sinfonie schaffen halfen. Erster Satz: (Un poco sostenuto — Allegro, zuerst etwas zurückhaltend, dann bewegt). Ein schwerblütiges Ringen um ernste Lebensprobleme. Unerbittlich droht ein sogenannter Orgelpunkt (ein ständig ausgehaltener oder wiederholter Baß ton). Leidenschaftlich drängen darüber chromatische Gänge. Erst die Oboe bringt nach großer Steigerung eine weichere Stimmung, die allerdings nur zu schnell wieder gebrochen wird durch Kraft und Trotz. Zweimal noch denkt man an ein Ende der Lebensfülle (atemversetzende Pianissimi). Stets siegt die Kraft. Zuletzt aber doch noch ein wehmutvolles Verzichten. Zweiter Satz: (Andante sostenuto, gehalten, gehende Bewegung). Die Milde, die leidenschaftslose Ruhe des den Satz beherrschenden Hauptthemas läßt den Kampf des vorangegangenen Satzes kaum ahnen. Die wundervollen Wechselspiele zwischen einzelnen Instrumenten (Oboe und Klarinette, Bässe und Flöten, Solo violine und Horn) stützen sich dann auf ein weiteres rhythmisch etwas lebendigeres Thema. Dritter Satz: (Un poco Allegretto e grazioso, anmutig bewegt). Ein zartes, ruhig heiteres Klarinettenthema, dann, von den Violinen aufgenommen, etwas anders rhythmisiert; ein zweites, trüberes Klarinettenthema im Wechsel mit den Streichern bildet den Gegensatz. Das Ende bringt die Rückkehr zu Zartheit und Grazie. Vierter Satz: (Adagio, piu Andante. Allegro non troppo, piu Allegro, ruhig, bewegter, nicht zu schnell, schneller). Das einleitende Adagio wird von tragischen Stimmungen, gesteigert bis zu wilder Empörung, beherrscht. Ein weihevolles Hornsolo bringt eine überraschende Wendung: Milde, Frieden. Dann aber erklingt der berühmte, volkstümlich edle Gesang, der in seinem Charakter dem Freudenhymnus aus Beethovens „Neunter“ stark verwandt ist, was aber Brahms beabsichtigt haben soll. Sieghafte Freude durchpulst den Schluß. Nur vorüber gehend taucht noch einmal die Erinnerung an früheren, schlimmen Kampf auf. Dr. Kreiser.