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KONGRESS - SAAL DEUTSCHES H Y G I E N E - M U S E U M Dienstag, den 19. Januar 1960, 19.30 Uhr, Anrecht C 2. KAMMERMUSIKABEND der Kammermusikvereinigung der Dresdner Philharmonie Ausführende: Günter Siering, Violine • Günther Schubert, Violine Herbert Schneider, Viola • Erhard Hoppe, Violoncello Heinz Schmidt, Kontrabaß • Heinz Hörtzsch, Flöte Heinz Butowski, Oboe • Werner Metzner, Klarinette Hans Otto, Cembalo Joh. Christ. Bach Quintett, Es-Dur op. 11 Nr. 4 1735 1782 für piöte, Oboe, Violine, Viola, Violoncello und Cembalo Andante Menuetto Allegro Jos. Haydn Streichquartett C-Dur op. 33 Nr. 3 1732 1809 AU e g ro moderato Scherzo, Allegretto Adagio Rondo, Presto Sergej Prokofjew 1891—1953 Dmitri Schostakowitsch geb. 1906 PAUSE Quintett, op. 39 für Oboe, Klarinette, Violine, Viola und Kontrabaß Thema con Variazioni Andante energico Allegro sostenuto, ma con brio Adagio pesante Allegro precipitato, ma non troppo presto Andantino, Pochissimo piu mosso Streichquartett F-Dur op. 73 Nr. 3 Allegretto Moderato con moto Allegro non troppo Adagio Moderato Deutsche Vergangenheit — Sowjetische Gegenwart Vier Werke, vier Komponisten aus zwei Nationen. Zwei Stilrichtungen: von der Barock musik zur Klassik (Johann Christian Bach und Joseph Haydn). Von der neuen Musik zum Realismus des 20. Jahrhunderts (Sergej Prokofjew und Dmitri Schostakowitsch). In den Söhnen Johann Sebastian Bachs spiegelt sich das einmalige Genie des Vaters in viel fältiger Weise wider. In dem glanzvollen Quartett der Brüder Wilhelm Friedemann, Philipp Emanuel, Johann Christoph und Johann Christian nimmt der Jüngste eine Sonderstellung ein: Johann Christian entfernte sich als Komponist am weitesten von seinem Vater, der sein erster Lehrmeister war. Von allen Söhnen Johann Sebastians wurde er am meisten mit Ehren überhäuft: ein Weltmann, der an den Höfen der Welt aus- und einging. Als Johann Sebastian starb, war Christian 15 Jahre alt. Philipp Emanuel wurde sein zweiter Lehrer. Danach wandte Johann Christian sich nach Italien, lernte in Mailand und Bologna und verschrieb sich bald ganz der Oper, obwohl er in Mailand als Domorganist tätig war. Man rühmte damals, daß Johann Christian Bach seine Opern so italienisch schreibe, daß sie den Vergleich mit italienischen Komponisten aushielten. 1762 ging Johann Christian nach London, wo er Mozart kennenlernte, dem er sich freund schaftlich verbunden fühlte: „Ich liebe ihn von ganzem Flerzen“, lesen wir bei Mozart, „und habe Flochachtung vor ihm!“ Vieles ist mit Recht vergessen, das Johann Christian Bach für den Alltag schrieb, anderes aber wurde wiederentdeckt und bewährte sich. Welche Kostbarkeiten unterhaltsamer Musik sich darunter befinden, wird uns durch das Quintett bewiesen, das heute abend erklingt. Wenn sich Johann Christian in seinen Opern auch allzusehr dem Geschmack des damaligen Publikums verschrieb, in seinen Instrumental werken für Orchester und auch in seinem kammermusikalischen Schaffen verstand er es trefflich, ein fundiertes kontrapunktisches Können mit dem Schmelz und der Süße italieni scher Melodik zu verbinden. Er gehörte darüber hinaus zu den Komponisten, die in der Sonatenform die beiden Themen in ihrer Gegensätzlichkeit wesentlich ausprägten; und nur am Rande sei vermerkt, daß Johann Christian zusammen mit Mozart der Schöpfer des vierhändigen Klavierspieles wurde. Von keinem geringeren Meister als Wolfgang Amadeus Mozart stammt der erklärende Satz zur Widmung seiner sechs Streichquartette an Joseph Haydn: „Das war meine Schuldig keit, denn ich habe von Haydn erst gelernt, wie man Quartette schreiben muß.“ Wenn auch vor Haydn bereits Quartette für die Besetzung von vier Streichern geschrieben wurden, gilt doch Joseph Haydn als Erfinder dieser Kammermusikform, als ihr Schöpfer und zugleich Vollender. Er war der „Erste“, der den Wert und die Einmaligkeit dieser Gattung erkannte, und er war es, der den bisherigen Versuchen wahrhafte Kunstwerke entgegenstellte und damit eine feste Basis für die weitere Entwicklung des Streichquartett schaffens schuf. Joseph Haydn begann mit der Gruppe seiner Kassationen, Notturni und Divertimenti, erreichte mit den sechs Quartetten seines Opus 20 eine wesentliche Entwicklungsstufe, pausierte dann 10 Jahre, um mit den Quartetten aus Opus 33 „auf eine ganz neue Art“ noch einmal zu beginnen. Diese Gruppe ist bekannt geworden unter dem Namen der „Russischen Quartette“, weil sie dem Großfürsten Paul von Rußland gewidmet wurden. Sie entstanden 1781. Zu ihren Charakteristika gehören die überlegene Verschmelzung von Polyphonie und Homophonie, sowie die Kunst der Durchführung und der vertieften thematischen Arbeit. Das dritte Quartett dieser Gruppe ist bei Spielern und Hörern sehr beliebt. Den volkstüm lichen Namen „Vogelquartett“ erhielt das C-Dur-Quartett durch die Verwandtschaft der beiden Themen des ersten Satzes mit dem Gesang von Vogelstimmen, wobei Haydn natür lich nicht in naturalistischer Manier Programmusik schrieb, sondern nur andeutete und mit äußerster Behutsamkeit „malte“. Der Anfangssatz besticht durch seine Feingliedrigkeit der Struktur und durch die Transparenz des Klangbildes. Das nachfolgende Scherzando gibt sich ernster. Sein Thema wird „sotto voce“ vorgetragen. Das Trio bevorzugt wieder hellere Töne, und vielleicht kann man schon wieder ein lustiges Vogeltirilieren heraushören. Die Melodie des langsamen Satzes gehört der ersten Violine, eine schöne, getragene Gesangs weise von volksliedhafter Einfachheit. Das Final-Presto wird durch kecke Kuckucksrufe eröffnet. Die ländlich-beschauliche Stimmung wird durch das ungarisch gefärbte Seiten thema reizvoll kontrastiert und angenehm „gewürzt“. Sergej Prokofjew: Wir kennen seinen Namen, lieben seine Musik und wissen, daß er bereits heute — wenige Jahre nach seinem frühen Tod — zu den großen Klassikern der Gegenwarts musik gehört. Mensch und Musik sind bei Prokofjew nicht zu trennen. Der sowjetische Komponist war als Mensch sehr impulsiv, überaus spontan und einem großen Jungen ähnlich, der immer zu Scherzen aufgelegt war: „Im täglichen Leben war Prokofjew ein Kind, das unaufhörlich mit seinen beiden Jungen, dem jungen Oleg und dem älteren Swiatoslaw, spielen konnte, bis seine sehr schöne und strenggesinnte Frau, eine geborene Kubanerin, nach dem Rechten zu sehen pflegte.“ (Serge Moreux) Wie der Mensch Prokofjew, so war auch seine Musik. Wir alle haben schon einmal den Humor in seiner Musik gespürt: einen Humor, der oft ins Ironische, Satirische, Phantastische und Skurrile übergeht, besonders in seinen frühen Werken, wie den 1912 entstandenen „Sarkasmen“, den „Visions fugitives“ (1915/17) und dem Quintett für Oboe, Klarinette, Violine, Viola und Kontrabaß aus dem Jahre 1924, das in Dresden mehrfach mit großem Erfolg gespielt wurde. Das musikantisch übermütige und teilweise freche Werk ist aus der Freude am Augenblick entstanden, bezwingend in seiner beneidenswerten Naivität, überschäumend von spritzigen Einfällen, die ungemein bildhaft empfunden sind. Wenn Schostakowitsch einmal sagte: „Oft bezeichnet man als Formalismus einfach das, was nicht verstanden wurde oder einem nicht gefallen hat. Dabei darf aber nur diejenige Kunst als Formalismus gelten, die ideenlos, kalt, leer und leblos ist!“, so läßt sich das gut im Hinblick auf das Quintett Prokofjews zitieren, denn die Hörer werden selbst entscheiden, daß diese Musik alles andere als leer, kalt und leblos ist. Mit Dmitri Schostakowitsch steht einer der ganz Großen im Orchester der Weltmusik vor uns. Seine Werke werden überall gespielt, in Frankreich wie in Amerika, in seiner Heimat, bei uns und in Italien überall dort, wo Menschen wohnen, die durch diese Musik der menschlichen Aussage angesprochen werden. Das Menschliche in der Musik Schosta- kowitschs äußert sich nicht nur angenehm, geglättet und wohlklingend, dem sowjeti schen Meister geht es um die gesamte Ausdrucks- und Empfindungsskala des menschlichen Lebens. Fleroisches Pathos ist in der Musik Schostakowitschs gleichermaßen vertreten wie versponnene Lyrik, und beide Ausdrucksbereiche werden in einer unvergleichlich persön lichen Weise miteinander verwoben. Klänge zartester Verhaltenheit wechseln mit wilden, barbarischen Ausbrüchen, die durch ihren vulkanischen Atem den Hörer leicht erschrecken. Die unermeßliche Weite des russischen Landes schwingt in dieser Musik mit, das bohrende Grübeln eines Dostojewski, der ironische Humor eines Gogol und der kämpferische Elan eines Maxim Gorki. Über allem aber steht die Wahrheit des Ausdrucks. Dmitri Schostakowitsch schrieb bislang sechs Streichquartette. Das dritte in F-Dur erschien 1946 als Opus 73 und wurde Anfang 1947 durch das Moskauer Beethoven-Quartett uraufgeführt. Das Werk ist fünfsätzig: Ein tänzerisch durchpulstes Allegretto eröffnet das Quartett. Die Formanlage ist klassisch. Eine interessante Verbindung zum „Vater des Streichquartetts“, zu Joseph Haydn. Ein prägnantes Thema eröffnet den zweiten Satz.