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PR OGRA MM EINFÜHRUNG Es hat die Musiker schon immer gereizt, die Gedan ken, die Johann Sebastian Bach der Orgel oder dem Klavier anvertraut hat, auf das moderne Orchester zu übertragen, so, als bedürfe es seiner beredten Viel- züngigkeit, um sagen zu können, welcher Reichtum sich dort verbirgt. Arnold Schönbergs Orchester auffassung der Es-dur-Fuge und des dazugehörigen Präludiums aus dem „Wohltemperierten Klavier“ wurde vor 1933 viel gespielt und auch auf der Schall platte zugänglich gemacht. Daneben steht, in *der gleichen Tonart, die Übertragung eines Orgelwerkes, die Heinz Bongartz, der Leiter der Dresdner Phil harmonie, mit orchesterkundiger Hand vorgenom men hat. Hat man schon im allgemeinen von der Zu sammenstellung Präludium und Fuge als von „zwei- sätzigen Orgelsinfonien“ gesprochen und damit den orchestralen Charakter der Bachschen Schöpfungen angedeutet, so rechtfertigt die festliche Großartig keit gerade dieses Präludiums, daß das Monumental werk des „Dritten Teiles'der Klavierübung“ ein- icitet, die nicht zu überbietende Kunstfertigkeit der Tripelfuge (Fuge mit drei Themen), die am Schluß der „Klavierübung“ (einer Sammlung von Choral vorspielen) steht, erst recht die Transkription. Die kunstvolle Entsprechung von Präludium und Fuge (beide sind dreifach gegliedert) kommt dabei beson- . ders klar zur Geltung und zum Bewußtsein. Wir stehen am Anfang des Jahres 1874. Ein wahrer Schaffensrausch hatte Bruckner erfaßt. Trotz aller Misere, trotz aller Enttäuschungen. Am,31. Dezem ber des vorherigen Jahres hatte er die 3. Sinfonie ab geschlossen. Am 2. Januar begann er mit der Skizze zum ersten Satz einer neuen. Am 22. November 1874, „um halb neun Uhr abends", war sie vollendet. Aber sie scheint dem Rastlosen, Kritischen, Ängst lichen noch nicht „vollendet" zu sein. Und so schafft er 1878 eine zvyeite Fassung, in dfer das Scherzo durch ein neues, das „Jagd-Scherzo“, ersetzt wurde. Und eine dritte Fassung im Jahre 1880 brachte eine völlige Neuformung des Finales. Diese vierte ist wohl die beliebteste und populärste der Brucknerschen Sinfonien. Sie trägt den Namen: die „romantische“, und wer sie so nennt, kann sich auf den Meister selbst berufen. In einem Brief vom 19. September 1876 an Wilhelm Tappert, den Ber liner Kritiker, der sich um eine Aufführung des Wer kes in der Reichshauptstadt (die „Residenz unseres großen Vaterlandes" sagt Bruckner) bemühte, ge braucht Bruckner diesen Ausdruck. Da vorher nicht die Rede davon war, ist anzunehmen, daß die Be zeichnung erst entstanden ist, nachdem das Werk schon vollendet war, daß Bruckner also keineswegs die Absicht hatte, eine romantische Sinfonie zu schrei ben und damit unter die Programmusiker zu gehen. Dem widerspricht auch nicht die Tatsache, daß es Äußerungen Bruckners über den „Inhalt“ gibt. So hat er das „Programm“ des ersten Satzes seinem Freund, dem Chordirektor P. Bernhard Deubler in St. Florian, folgendermaßen skizziert: „Mittelalter liche Stadt — Morgendämmerung — von den Stadt türmen ertönen Morgenweckrufe — die Tore öffnen sich — auf stolzen Rossen sprengen die Ritter hinaus ins Freie — der Zauber des Waldes umfängt sie — Waldesrauschen — Vogelsang — und so entwickelt sich das romantische Bild". Diesem (übrigens un verbürgten) Stenogramm gegenüber steht der ge wichtige Ausspruch überdas Finale: „Und im letzten Satz, ja, da weiß i selber nimmer, was i dabei denkt hab’." Wir dürfen annehmen, daß es sich auch bei den zuerst zitierten Worten um nachträgliche Er läuterungen handelt. Denn die vierte Sinfonie ist • S wie alle andern ein Werk der strengen, der Bruckner schen Sinfonieform. So ist gleich das erste Thema ein zusammengesetztes, ein Themenfächer. Das zweite, das Gesangsthema, ist ein Doppelthema, be stehend aus einer eindrucksvollen Bratschenmelodie und einem Kontrapunkt der ersten Geigen, den Bruckner als das Gezwitscher („zi-zi-bee“) eines Waldvogels, der „Bee-Moasn “ (Waldmeise) auf gefaßt haben wollte. Auch hier fehlt nicht das dritte Thema, charakterisiert durch den sogenannten „Bruckner-Rhythmus“, die Verbindung von zwei Vierteln mit einer Vierteltriole, wobei eine Rück beziehung auf die zweite Hälfte des ersten Themas stattfindet. In der sehr knappen Durchführung, die das Material mit Ausnahme des zweiten Themas kunstvoll und hochpoetisch verarbeitet, führt Bruck ner noch ein weiteres, ein Choralthema ein. Die Reprise ist dann, wie immer bei Bruckner, keine wörtliche, sondern eine „sinngemäße“ Wiederholung. Sie mündet in die Koda, die aus furchtsamen Niede rungen, dargestellt durch den terzlosen Tonika- Akkord der Moll-Parallele, emporsteigt zu gewal tigen Gipfeln, über die mit dem Hauptthema in den Hörnern Fanfaren des Lichtes hereinstürzen. Überaus klar ist auch der Aufbau des zweiten Satzes. Es ist ein Lied in drei Strophen. Dabei ist jede Strophe mit großer Phantasie neu geformt Das Material besteht aus einem ersten Thema, das eine unsagbar „traurige Weise“ (wie es im „Tristan“ heißt) der Celli mit dem Trauermarsch-Rhythmus der sordinierten Violinen und Bratschen kombiniert, und einem zweiten, das gebildet wird von einer nicht minder seelenvollen Melodie der Bratschen (Frank Wohlfahrt vergleicht sie treffend mit der barocken Ornamentik einer geistlichen Arie), die vom Pizzi- kato der übrigen Streicher eingehüllt ist. Die „Er klärung“, die Bruckner diesem Satz gegeben haben soll, zeigt deutlich, wie unverbindlich diese Äuße rungen sind: „Im zweiten Satz will ein verliebter Bursch fenstcrln gehen, wird aber nicht eingelassen." Diese Deutung wird dem tiefen Gehalt des Andantes keineswegs gerecht. Das Scherzo hält sich ganz an die klassische Form mit Hauptteil, Trio und Wiederholung des Haupt teils. Dieser ist erfüllt von fröhlichem Hörnerschall, das Trio ist bestimmt durch eine sich anmutig wie gende Melodie der Flöte und Klarinette. Hier ist das Wort Bruckners verständlich: „Tanzweise während der Mahlzeit zur Jagd“. Der letzte Satz beginnt mit einer groß angelegten Einleitung: nimmermüdes Pochen der Streicherbässe auf einem Ton; in den zweiten Violinen murmelnde Schubert-Achtel (Meine Ruh’ist hin ...),darüber unheimlich,drohend ein Oktavenmotiv, das aus der gedehnten Bewegung in ganzen Noten bald herausgepeitscht wird, in drängende Halbe und Viertel hinein. Der Jagdruf aus dem Scherzo ertönt. Gewaltige Steigerung. Dann erst wird der gewaltige Quader des ersten Themas aufgerichtet. Im fünften Takt steckt das Hauptthema des ersten Satzes, das Urthema der ganzen Sinfonie. Das zweite Thema ist eine drei teilige Motivgruppe, die immer mehr ins Helle spielt, starker Gegensatz zum dritten Thema, mit seinem donnernden düsteren b-moll, das im zweiten Teil wieder aufgelichtet wird durch ein fast spielerisches Ges-dur. Durchführung und Reprise bestätigen den „absoluten“ Charakter des Werkes. Die Koda be ginnt mit einer Koppelung der geraden und der Gegenbewegung des Hauptthemas, wächst über feierlichen Choralklängen und aufrüttelnden Trom petenrufen machtvoll in die Höhe, bis schließlich ein strahlendes Es-dur die klingende Kuppel bildet. Dr. Karl,La