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nien mit soharfem Ohr erfaßt und alle Stimmen mit dem geringen Umfang der eigenen Stimme hervorbringt. Ich bin sonst ein großer Verehrer des Altertums, aber ich glaube, daß mein Freund Bach viele Männer wie Orpheus und zwanzig Sänger wie Arion in sich schließt". Dieser Bach kommt in dem Klavierabend, im Orgelkonzert und im Kammerkonzert zu Wort. Aber es gibt noch mehr Dresdner Bachbeziehungen. Mit Friedemann kam er von Leipzig herüber, um die Oper zu besuchen und die ,,schönen Dresdner Liederchen" einmal wieder zu hören. Hasse und seine Frau (die berühmte Sängerin Faustuia Bordoni) machten Gegenbesuche. Als dann Friedemann im Jahre 1733 Organist an der Sophienkirche war, kam der alte Bach öfter nach Dresden. Im November 1736 wurde er Dresdner „Hofkom# positeur" ; am T Dezember spielte er auf der neuen Silber# manmOrgel der Frauenkirche. Welche Gefühle bewegen uns heute, da alle diese Dresdner Bachstätten zerstört sind! Sein Werk ist uns geblieben und, wenn es auch keine Kreuz# kirche, keine Sophienkirche und keine Frauenkirche mehr gibt, lebendiger denn je. Mit den Kantaten und Motetten (darunter die große Friedens »Motette ,,Singet dem Herrn ein neues Lied", geschrieben nach Beendigung des zweiten schlesischen Krieges — es ist jenes Werk, an dem sich Mozarts Bach-Begeisterung entzündete) und den beiden Passionen ver# kündet der ,,Fünfte Evangelist", wie der schwedische Erz# bischof Söderblom Bach genannt hat, das Lob Gottes und schenkt der Menschheit Trost und höchste Erhebung über die kleinen Armseligkeiten, des Alltags. Daß wir diesen Musiker, von dem Beethoven gesagt hat, ,,nicht Bach, sondern Meer sollte er heißen!", den unseren nennen dürfen, ist nach dem geistigen Zusammenbruch des Deutschtums, den wir erleben mußten, etwas, was uns auf# richten kann. Mit ihm, seinem Werk und der Pflege seines Werkes können wir wieder den Anschluß an die Welt ge# winnen. Ist es nicht, als sei der Schlußabsatz der Vorrede, die der fi anzösische Komponist Charles Marie Widor 1907 zu der Bach#Biographie von Albert Schweitzer geschrieben hat, auf unsere Zeit gemünzt: ,,Indem Bach sich die künst# lerische und religiöse Menschheit erobert, erfüllt er seine Mission an unserer Zeit, die der Schranken, die die Vergangen# heit aufgerichtet hat, nicht Herr wird, wenn die großen Geister der Vergangenheit ihr nicht zu Hilfe kommen. Was wir ge# meinsam bewundern, gemeinsam verehren, gemeinsam ver# stehen, eint uns." Mögen die Dresdner Bachtage von 1947 auch so verstanden werden. DR. KARL LAUX