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Nur eine „Instrumentations-Studie“ — und doch ein Welterfolg! Es ist schon viel von den Schicksalen berühmter Kunstwerke geschrieben worden. Meistens handelt es sich darum, daß eine Sinfonie, eine Suite oder ein Konzert jahrelang vergessen wurden, um dann nach abenteuerlichen Wegen gleichsam zum erstenmal entdeckt zu werden. Doch auch das Gegenteil ist möglich: daß ein Kom ponist entweder aus finanziellen Gründen einen Auftrag annimmt, überzeugt ist, ihm sei gar nichts gelungen, und das Werk macht seinen Weg dennoch um die Welt. Märchenhaft und unwahrscheinlich klingt die Geschichte von der Entstehung des in aller Welt stürmisch umjubelten „Bolero“ von Maurice Ravel. Der fran zösische Komponist erhielt 1928 von der bekannten Tänzerin Ida Rubinstein den Auftrag, ein Ballett zu komponieren. Ravel hatte keine Lust dazu, erklärte aber seine Bereitschaft, ein paar Klavierstücke von Albeniz zu orchestrieren. Er ließ sich viel Zeit dazu, bummelte, faulenzte, und das war sein Glück, denn inzwischen hatte Ida Rubinstein erfahren, daß die Rechte des Orchestrierens im Falle des spanischen Komponisten Albeniz allein einem anderen Musiker übertragen worden waren. Zwar wollte dieser — der Dirigent Arbos — darauf verzichten, als er hörte, daß Ravel die Stücke orchestrieren soll, aber Ravel wollte immer noch nicht an- beißen. Er suchte ein Thema, das ihm die Grundlage für eine Instrumentations- Studie bietet: das Thema des „Bolero“. Er selbst schrieb in seiner biographischen Skizze darüber: „1928 habe ich auf Wunsch von Frau Ida Rubinstein einen Bolero für Orchester komponiert. Es ist ein Tanz in sehr gemäßigter Bewegung und stets gleichförmig sowohl in der Melodik und der Harmonie wie in seinem Rhythmus, den die Trommel unaufhörlich markiert. Das einzige Element der Abwechslung bringt hier das orchestrale Crescendo. Das ist einmal ein Stück, das die großen Sonntagskonzerte niemals die Stirn haben werden, auf ihre Programme zu setzen; was meinen Sie?“ Ravels Freunde stimmten ihm bei — und täuschten sich! Der Bolero wurde ein Welterfolg, ein „Reißer“ im besten Sinne, das populärste Orchesterwerk Maurice Ravels, das selbst seine „Valses nobles et sentimentales“ weit übertraf. Noch immer scheiden sich die Geister, wenn es um die künstlerische Beurteilung des „Boleros“ geht: Die einen sind fasziniert und verzaubert, die anderen sprechen von einer Geschmacklosigkeit, von einem „Schmarren“. Als vor rund 10 Jahren eine musikalische Fachzeitschrift eine Leserumfrage veranstaltete —Titel: „Ravels Bolero — weltberühmt?“ —, erhielt sie unter anderem folgende Zuschriften: Ein Herr, 32 Jahre alt: „Das ist Kunst für den Intellekt, nicht für das Herz. Das erweckt keine poetischen Vorstellungen, keine stimmungsvollen Bilder in meinem tiefsten Innern; solches Kunstgewerbe bereichert selbst mein so empfindsames Fühlen nicht — schenkt meinem sehnenden Herzen keine transzendentalen Werte —“ Eine Ballettratte, 18 Jahre alt: „Die Musik finde ich eigentlich ganz schön, wenn mir auch so’n richtiger Strauß-Walzer doch lieber ist. Aber daraus läßt sich natür lich nichts Spanisches machen. P. S. Ich möchte Sie aber noch privat anfragen, was heißt eigentlich Bolero? Meine Mutti meinte, das wäre so’n Jäckchen, ziemlich kurz und wo vorn olfen steht. Aber das paßt doch gar nicht zu die Geschichte?“ Ein Primaner: „Ravel war kein Vollblut-Spanier. Das macht heute jeder Jazz komponist besser. Erotische Musik unserer Zeit, die muß schon anders losgehen!“ Ein Kompositionslehrer, 67 Jahre alt: „In geradezu provozierender Weise verletzt das Werk die natürlichen Gesetze des Aufbaus. Nur aus der Verwilderung des heutigen Geschmacks ist es zu erklären, daß unser Publikum eine Musik akzeptiert, die sich allein an die niederen Instinkte wendet und sowohl jede Gemütserhebung wie jede Tiefe vermissen läßt.“