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Beethovens Neunte Sinfonie können wir am besten von ihrem (gesungenen) Schlußsatz her verstehen. Als Hymnus an die Freude macht er die ganze Sinfonie zum Lied an die Freude. Der Freudenhymnus selbst gliedert sich in fünf Abschnitte. Ein erster Teil ist aufgebaut auf dem eigentlichen „Freudenthema“, einem breit strömenden Gesang, den der Solobaß über die Worte „Freude, schöner Götterfunken“ anstimmt, in den bald die anderen Solisten und der Chor einfallen. Damit geht es dem ersten Höhepunkt zu: „Und der Cherub steht vor Gott.“ Besonders wirkungsvoll bei der letzten Wiederholung des Wortes „Gott“ der überraschend einsetzende F-dur-Akkord. Der zweite Teil, ein Marsch, ist dem Solotenor anvertraut, dem der Männerchor schließlich zu Hilfe kommt. Große Trommel, Becken und Triangel geben die Orchesterfarbe dazu. Im unmittelbaren Anschluß daran setzt der Chor mit der Wiederholung der ersten Strophe ein. Nach einer Generalpause leiten die Posaunen und die Bässe den dritten Teil ein („Seid umschlungen, Millionen!“). Das wie aus Marmorblöcken gemeißelte Thema, das zunächst die Männerstimmen des Chors bringen, ist, formal gesprochen, das Seitenthema des Satzes. Es wird weitergeführt durch die Ton symbolik des „Ihr stürzt nieder“ und des in überirdischem Glanze leuchtenden „Über Sternen muß er wohnen“. Im vierten Teil werden schließlich das erste und das zweite Thema, das „Freudenthema“ und das Thema „Seid umschlungen, Millionen“, zu einer gewaltigen Doppelfuge vereinigt. Ein letzter Abschnitt, die Koda, ist noch einmal vielfach gegliedert. Sie enthält einen Ruhepunkt, wenn das Soloquartett in überirdisch schönen Tönen eine freundliche Vision vor uns hinzaubert: „Alle Menschen werden Brüder, wo dein sanfter Flügel weilt“, dann setzt der Schlußjubel ein, alles Vorhergegangene in rauschhafter Freude übertreffend. Dieses Finale der Freude steht nun in einem merkwürdigen Gegensatz zu den voran gegangenen Sätzen. Aber gerade dieser Gegensatz ist es, der uns das Werk in seiner Gesamt heit verstehen läßt. Denn nicht ist uns die Freude als müheloses Geschenk gegeben, sondern wir müssen sie uns erobern. Das spüren wir gleich im ersten Satz, in dem eine Stimmung herrscht, die aus Trauer und Trotz gemischt ist. So spricht uns gleich das erste Thema an, das den ganzen Satz beherrscht. Selbst das zweite Thema drückt ähnliche Gedanken aus und wirkt kaum als Gegensatz zum ersten. Die Durchführung ist erst recht nur eine ständige Ver wandlung des Hauptthemas, das am Schluß des Satzes — nach einer riesenhaften Steigerung über chromatisch sich windenden Bässen — noch einmal im Unisono des ganzen Orchesters (das heißt: alle Instrumente spielen das gleiche) herunterdonnert wie die Erscheinung eines drohenden Schicksals. Der zweite Satz, das Scherzo, greift diese Stimmung noch einmal auf. Noch ist die Spannung nicht gelöst. Die Schläge prasseln nieder, dann setzt das fugenartig behandelte Hauptthema ein, dessen Rhythmus (punktiertes Viertel, Achtel, Viertel) bestimmend ist für den ganzen Satz. In immer neuer Belichtung wird er abgewandelt, bis ein kurzes Prestostück in das Trio überleitet. Es mutet nach diesem dämonischen Spuk wie der Blick in eine heitere Landschaft an. Das Fagott bringt sogar humorvolle Züge hinzu. Der dritte Satz ist wie eine Überleitung zu dem Finale. Die Kämpfe sind beendet. Der Boden für die Einkehr der Freude wird bereitet. Zwei Themen folgen einander, das erste in B-dur voll ergreifender Innigkeit, das zweite in D-dur innerlich bewegter, aber doch auch voll tiefen Friedens. Sie werden sich im weiteren Verlauf in veränderter Form wieder gegen übergestellt, unterbrochen von aufrüttelnden Trompetenfanfaren, die aus der Welt des Kampfes herüberzutönen scheinen. Das Finale wird nun nicht unmittelbar angeschlossen. Beethoven suchte eine Brücke von den als Einheit entstandenen drei ersten Sätzen zu dem Schlußchor zu schlagen. Diese Überleitung ist aber völlig in die Musik und in die Idee des Werkes eingeschmolzen. Noch ist, wie uns der Komponist zu sagen scheint, der Friede des Adagios nicht beständig. Heftige Dissonanzen, denen die Bässe mehrfach Einhalt gebieten. Erinnerungen an die ersten drei Sätze tauchen auf. Dann beginnen die Bässe das „Freudenthema“, das vom Orchester in einem Fugato aufgenommen wird. Aber noch ist das Tor zur Freude nicht aufgestoßen. Noch einmal die Dissonanzen des Anfanges. Und nun ergreift, als ob die Stimme des Instruments nicht genügen würde, den Aufruhr zu bändigen, die menschliche Stimme das Wort: „O Freunde, nicht diese Töne!“ Dann erst beginnt der oben geschilderte Freudenhymnus, der Gesang in der Sinfonie. Dr. Karl Laux