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Beilage zum Krzgeö. Molksfreund. Sonnabend, den 1. September Nr. S01. 1906. ver- t..... eine schon „Nichts von Bedeutung, lieber Junge — nur Formsache — in ein paar Tagen sind Sie vielleicht wieder hier". Wilm sah ihn verständn'slos.an. „Die Staatsanwaltschaft hat Ihre Verhaftung fügt". „Ich— ich soll verhaftet werden?" 2kern von Ser Welt. Roman von L. Haidhetm. „Ja, Wilm! Und da man weih, daß ich Ihr Freund bin, und Sie bei mir Aufnahme gefunden haben, so hat man mit Rücksicht darauf angeordnet, Sie nach der Resi denz zu bringen". Die Fran Amtsrichter hatte, sobald sie ihres Mannes Gesicht sah, Alice leise mit sich aus der Wohnstube gezogen, aber beide Frauen standen, atemlos vor Herzklopfen, unter der Portiere, welche das Privatkabinett der junger« Frau von diesem Zimmer trennte. Sie konnten alles sehen, alles hören und dachten in ihrer Erregung gar nicht daran, ob dies recht oder nicht recht sei. Wilm Gerden« war sprachlos. Eine furchtbare Er schütterung ging durch seine Seele und verwirrt blickte er um. sich, als könne es das alles nicht begreifen. „Ist es wegen Brammers?" fragte er endlich leise. „Nein, ich will Ihnen die Wahrheit sagen, Wilm, dann sind Sie gefaßter. Es ist eine anonyme Zuschrift bei der Staatsanwaltschaft eingelaufen, Sie wären im Begriff ge wesen, neue Gebäude aufzuführen, und hätten die alten an gezündet, um Geld zu bekommen." „Also doch!" murmelte der junge Mann. Er hielt sich jetzt tapfer und hörte aufmerksam zu. Ferner ist. eine andere Anzeige mit dem vollen Namen .des Demmziapten eingegangen, und darin wird behauptet, ein Kutscher aüs Ochtersen habe Sie in der Brandnacht,- etwa gegen chg 11 oder elf Uhr, bei Ihrem Hofe fast über fahren, gerade in dem Moment, als Sie das Feuer ange legt hätten, denn der Sturm habe schon einen Funken weg geweht. Sie selbst sollen, wie viele bezeugen könnten, nach dem Brande sehr vergnügt aüsgesehen und gleich erklärt haben, Sie würden nicht wieder bauen, sondern das Geld zum Studium verwenden, dann Ihr Examen machen, uni in Bremen oder Hamburg ein berühmter Mann zu werden. Auch hätten Sie längere Wochen vor dem Brande geäußert, Sie wünschten, der ganze Kremvel brenne ab." Immer blasser, immer trostloser blickte der unglück liche Wilm von einem der Herren zum andern, als wolle er sie fragen, ob sie ihm das alles zutrauten. Aber er be gegnete nur ernsten, verschlossenen Blicken. Plötzlich richtete sich her Verdächtige hoch und gerade auf. Wie weggewischt war" seine zweifelnde und verzwei felte Unruhe von seinem hübschen, energischen Gesicht, und ein stolzes Selbstbewußtsein leuchtete aus seinen Augen. „Ich bin's zufrieden, Bogner! Ich freue mich der Untersuchung! Sie allein wird mir meine Ehre wiederge ben können!" sagte er in ganz anderem Tone als vorher. Es schien beiden Männern, als sei der Jüngling plötzlich zum Manne geworden und die bangen Zweifel deren sie sich momentan nicht hatten erwehren können, waren gänz lich besiegt. „Nehmen Sie das Nötigste mit, Wilm. Wir schicken Ihnen, was Sie wollen," sagte Bogner, ihm auf die Schul ter klopfend. Da zuckte er doch wieder zusammen, als ihm das Gefängnis einfiel. Ein sichtliches Grauen davor malte sich in seinen Angen. „Kann ich nicht gegen Kaution —" Bogner verneinte nicht, obwohl er ganz genau wußte, wie schwierig düs Gericht sich in solchen Fällen zeigte. Und woher sollte denn die Kaution kommen, da die Auszahlung der Versicherungssumme vorläufig telegraphisch verzögert worden war? Diese Tatsache, die deutlich genug die Schwere des Verdachts zeigte, mußte Wilm auch noch erfahren. Endlich war auch das geschehen. Der junge Mann schien infolge des Ansturms aller dieser niederschmetternden Ereignisse gar nicht daran zu denken, daß er abreisen mußte. Bogner konnte nicht umhin, ihn daran zu erinnern. „Wollen Sie sich das Nötige zusammenpacken, Wilm?" Als dieser aber dann die Tür öffnete und draußen zwei Gendarmen warten sah, da warf er mit einem Schreckensruf die Tür wieder zu und stülpte bis in die Mitte des Zimmers zurück. „Man wird mich doch nicht wie einen gemeinen Ver brecher —" Er lehnte seinen Kopf an einen Schrank und schluchzte krampfhaft — ohne Tränen. Berlin. Doppeltes Pech. Schlimme Erfahrungen mit Berliner Taschendieben und Leichenfledderern hat in der Nacht zum verg. Sonntag der 23jährige Hausdiener August Kühne aus Dresden machen müssen. Der junge Mann war Sonnabend abends spät auf dem Anhalter Bahnhof eingetroffen, und im Gedränge bei der Billet kontrolle wurde ihm die Uhr entwendet. Der Bestohlene schlug sofort Alarm, doch war der Täter nicht aufzusinden. Als K. noch dem Beamten sein Leid klagte, gesellte sich ein junger, anständig gekleideter Mann zu ihm, der dem Be stohlenen sein Mitleid aussprach und ihn dringend warnte, in der Neichshauptstadt vertrauensselig zu sein, weil jeder dritte Berliner ein geborener Spitzbube wäre. Ihm aber könne er sich ruhig airschließen, da er Vorstandsmitglied des Vereins zur Hebung der Sittlichkeit sei und nunmehr dafür sorgen würde, daß, solange K. in Berlin bleibe, ihm nichts Schlimmes mehr Yassiren werde. Die neuen Freunde besuchten dann mehrere Lokale und wollten sich schließlich im Tiergarten auf einer Bank ausruhen. Der angetrunkene K. verfiel bald in . einen tiefen Schlaf. Er mochte jedoch nur eine kurze Zeit geschlummert haben, als ihn sein Be gleiter weckte mw ihn: erklärte, daß es hier nicht geheuer sei und daß in dem gegenüberliegenden Gebüsch Strolche sein müßten, die es'auf sie abgesehen hätten, er wolle ein mal nachsehen, was da los sei. Sprachs, sprang in daS Gebüsch und kehrte nicht mehr nach der Bank zurück. Der junge Hausdiener hemerkte jetzt zu seinem Schrecken, daß ihm der Geldbeutel mit seiner ganzen Barschaft im Betrage von einigen achtzig Mark geraubt worden war. Von dem Vorstandsmitglieoe des Vereins zur Hebung der Sittlichkeit fehlt natürlich jede Spur, und es ist anzuneh- men, daß der Taschendieb mit dem Leichenfledderer gemein sam operiert hat, — Ueber das Treiben und die Verhaftung eine- Berliner Defraudanten, dessen Flucht wir seinerzeit nüt- I „Das ist meine- ManneS Stimmel" sagte Frau Bogner. Es sprachen aber erregte Menschen dort im Flur halb laut durcheinander. Dann öffnete sich die Tür, und der Amtsrichter trat mit dem KamMerrat ein. Beide Herren sahen erschreckend blaß aus, wenn sie auch äußerlich ruhig schienen. „Er ist tot! Der Unglückliche ist tot! Und ich — ich habe — Mit diesen Worten war ihnen Wilm entgegengestürzt) er war entsetzlich aufgeregt. „Cord Brämmer lebt und der Doktor tröstet ja, er hätte einen hatten Schädel," sagte der Amtsrichter, sah aber dabei sonderbar aus und rang nach Atem, als ob ihm die Luft fehle. „Was gibt es denn nun wieder?" fragte Wilm. >1 - Da hielt. Alice von Groothusen sich nicht länger. Sie flog zu ihm hin und, seine Hand erfassend, rief sie: „Herr Gerdena, gehen Sie nur! Und wenn alle an. Ihnen zweifeln, Alice Groothusen weiß, daß Sie kein Ver brecher sind!" k - Wilm hatte das Haupt erhoben und sah sie an wie ein Träumender. Dann beugte er sich über ihre Hand. „Das lohne Ihnen Gott! Das wird mir ein Trost sein, wenn es mir auch noch so schwer wird I" sagte er und man sah, daß er allmählich seine Ruhe wiederfanö, Auch Frau Bogner und die beiden Herren traten zu ihm. Alices impulsiver Ausruf riß sie alle fort. Wie eine felsenfeste Gewißheit hatten Alices Woete gewirkt. „Wilm! Ich werde sofort an den Justizminister be richten. Zur Not fahre ich selbst hin!" tröstete der Kam merrat, als sie den jungen. Mann auf den Hof geleiteten. Dort stand ein bestellter Wagen. Wie Schaudern überflog es den Gefangenen nun doch. Aber er hielt sich tapfer. Die beiden Gendarmen setzten sich zu ihm. Die Fenster wurden geschloffen. . „Er kommt ja nur in Untersuchungshaft, liebes Kind." tröstete Bogner seine krampfhaft weinende Frau, als sie wieder ins Haus gingen. Alice weinte nicht. Ihre Wangen glühten. Ihr ganzes Wesen war in Erregung. Sie zweifelte keine Minute daran, daß Wilm nur vor den Untersuchungsrichter zu treten brauche, so werde der eben so klar, wie sie, seine Unschuld erkennen. Als sie sich dann zum Fortgehen rüstete, fragte sie den Kammerrat: „Wo war denn Herr Gerdena von Elf- stetn geblieben?" „Der konnte nicht mitkommen! Es ging ihm zu nahe. Ist doch ein netter, braver Mensch," sagte der Amtsrichter. Helden war plötzlich wieder verstimmt, man sah es ihm deutlich an. Man verabschiedete sich. Als er und Alice schon im Freien standen,.Hieß er sie einen Moment warten und kehrte wieder iMHaus zurück. Bogner hätte ihnen nachgesehen und kam ihm schon in der Tür entgegen. Der Kammerrat nahm ihn beiseite und flüsterte ihm bedrückt zu: „Bogner, Wir dürfen uns nicht mit dem Wilm identi fizieren! Ist Ihnen nicht ausgefallen, wie finster der Elf- steiner schweigt?" „Er sagt, es sei nicht möglich, es könne nicht sein!" warf Bogner ein. _,,Das..K richtig^, .was soll er auch anders antworten? Damit sagt er eben gar nichts! Und ich kann mir nicht helfen, Bogner, es krallt sich mir wie ein Todesschrecken ums Herz, wenn ich alle diese Geschichten mit Probus' Testament in Verbindung bringe. Wie sollte mein alter ehrlicher FreündHazu gekommen sein, seinen Pflegesohn zu enterben, wenn tticht Schlimmes gegen Wilm vorläge?" „Aber Herr, Kammerrat!" „Bogner, Henkell Sie an Willmersdorf! Wer hätte dem zugetraut, daß er die Schatulle des Herzogs bestehlen würde?" „Freilich, ja! Die Menschenbrust hat keine Fenster, durch die man hineinsehen könnte." (Fortsetzung folgt.) (Nachdruck verboten.) (10. Fortsetzung.) Ein Knecht mit einem Ackerwagen begegnete ihnen. „Hast Du alles abgegeben? War der Herr Pfarrer selbst da >" rief Claas ihm zu. „Ja, Herr! 1 nd er hat sich mächtig gefreut, daß der Herr Gerdena so gut mit den Abgebrannten/ sind und es zollte ihnen wohl schön gelegen kommen!" soll ich bestellen." ,, Sie haben für die Abgebrannten gesorgt? Sieh, Alice das könnten wir auch! Das hätten wir schon gestern und vorgestern tun sollen!" sagte der Kauunerrat. Alice sah Claas von der Seite an. Dieser Zug gefiel ihr,- er machte heute überhaupt einen sehr viel besseren Ein druck auf sie. „Was haben Sie hingeschickt, Herr Gerdena?" Er zählte auf: .Korn, Brot, Kartoffeln, Hülsenfrüchte, Speck. Eine großartige Spende! 12. Kapitel. Der Amtsrichter saß in seiner Gerichtsstube, hatte Sprechtag und konnte sich um die Gäste nicht kümmern. Seine Frau ließ ihn darum auch nicht benachrichtigen. „Sie können ihn im Gerichtshause treffen, er nimmt jeden an," sagte Frau Bogner, die recht sorgenvoll aussah. „Darf ich Alice hier lassen?" fragte der alte Herr. ,Hch hole sie in einer Stunde ab." Die beiden Herren sprachen zu ihr gar nicht von Wilms Unglück. ,^3or die rechte Schmiede zu gehen," war Claas be liebter Grundsatz, und der Kammerrat war zu feinfühlend, etwas mit mir zu besprechen, was sie vielleicht nicht ein mal wußte, nämlich in welchem Rufe Wilm im Städtchen stand. Sie empfahlen sich sofort wieder. Wie finster und verstimmt er aussah, wußte der alte Herr gar nicht. Auch Alice hatte es nicht beachtet, aber die Frau Amtsrichter sagte, sobald sie alleiu waren: „Ich mochte gar nicht fragen, ob sie Wilm sprechen wollten. Sie sehen beide aus, als glaubten sie all' die Schändlichkeiten von ihm." „Das tun sie nicht, Frau Amtsrichter, aber wir waren alle so erschrocken. Der Herr Kauunerrat will ihn sogar im Gefängnis besuchen." - Das letzte Wort blieb ihr buchstäblich im Munde stecken, denn als sie in das hü! sch- Wohnzimmer traten, stand Wilm Gerdena dort in Leben, größ:. Er hatte ihre Worte offen bar gehört. Er sah sehr blaß und ganz verstört aus. Von dem offenen, frohen Lachen der sympathischen, ruhigen Liebens würdigkeit, an der so gar nichts Gemachtes gewesen, war nichts mehr zu spüren. „Gott lohne Ihnen das Wort, gnädiges Fräulein. Ich habe den ganzen Morgen nichts anderes gehört, als daß die Leute, unter denen ich ausgewachsen bin, mich für einen ausgemachten Schurken halten!" rief er in bitterem Leid und ihr schien, als ob seine schönen großen Augen sich feuchteten. „Das glaubt kein Mensch im Ernst, Wilm! Sie dürfen sich von dem Gerede nicht so niederdrücken lassen!" rief die Hausfrau, indes Alice dem armen Menschen, fest von seiner Bravheit überzeugt, die Hand reichte. „Aber wer ist denn so grausam, Ihnen das zu sagen?" fragte sie mit herzlicher Teilnahme. „Sie also glauben nicht das infame Gerede? Ich komme mir vor, als sei ich plötzlich in eine ganz andere Welt versetzt — wie von bösem Zauber umfangen! Und was das Gräßlichste ist, der alte Minders und Tönnings, sogar mein Freund, der Apotheker, — sie alle werden offen bar irre an mir. Die Geschichte klappt ja in jedem Punkte !" rief er verzweifelt. Dazwischen sagte die kleine, sonst so heitere Frau Bogner: „Die waren heute nämlich alle schon hier. Der eine hatte dies, der andere das gehört!" „Ja, und sie taten, als glaubten sie kein Wort. Aber man mußte nur ihre verlegenen Mienen, ihre scheue Freund lichkeit sehen." „Armer Herr Gerdena! Es wird sich ja sicher alles aufklären," tröstete Alice, und ihr schlichtes, liebes Wesen überwältigte ihn vollständig. „Was müssen Sie von mir denken? Man sagt immer, es bleibt von dem Schmutz, mit dem man beworfen wird, etwas hängen!" rief er. „Herr Gerdena, kommen Sie, trösten Sie sich." Alice wußte wirklich nicht, was sie dem Unglücklichen als Trost sagen sollte. Dann rief sie plötzlich: „Mein Vor mund glaubt es nicht — und Ihr Vetter sagte vorhin erst, Sie seien ein guter, edler Charakter." „Claas? Claas hätte das gesagt? Dann kann eS nicht wahr sein/ was mir Vie Leute heute erzählten — er glaubte auch bestimmt, ich hätte mein Haus selbst angesteckt!" Alice wollte etwas antworten, als es draußen auf dem Flur unruhig wurde.