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abgelöst von einem empfindsamen, lyrischen Thema, das den stärksten Gegensatz bildet. In der Auseinandersetzung dieser Kontraste erschöpft sich dann dieser gewaltige Satz, in welchem eine große Kadenz dem Solisten Gelegenheit gibt, sein Können nach allen Seiten hin schillern zu lassen. Schlichte, aber innige Melodien erklingen im lang samen zweiten Satz, die nach allen Möglichkeiten hin verändert und variiert werden. Dieser Satz ist kammermusikalisch instrumentiert und bildet dadurch ein Gegengewicht gegenüber dem orchestralen vollen Klang sowohl des ersten, als auch des nun folgenden dritten Satzes, der mit Feuer und tänzerischer Leidenschaft abrollt. Durch seinen mit reißenden Schwung und die prachtvolle Brillanz, durch seinen stürmischen Optimismus überzeugt er jeden Menschen von der Fülle des Daseins, die sich Tschaikowskij aus dem überquellenden Born seines Volkes schöpfen konnte. Brahms’ i. Sinfonie, op. 68, wurde 1877 veröffentlicht. Die Einleitung zum ersten Satz ist voll größter Spannungen, der Orgelpunkt der Pauke zu Beginn stützt eine Musik von dramatischer Wucht und Erhabenheit. Der Aufbau dieses Satzes ist klassisch, beide Themen sind klar formuliert und deshalb klar zu erkennen. Brahms hat nun eine eigene Art der Durchführung, die sein Wesen, seinen grüblerischen Ernst und seine spröde Verhaltenheit deutlich erkennen läßt. Der englische Dramatiker Priestley sagt in seinem Roman über dieses Werk einmal, daß er den Eindruck habe, daß Brahms mürrisch und grollend in der Ecke stehe und der übrigen Welt den Rücken kehre. Er hat nicht ganz Unrecht, weil er mit diesem Bild die Neigung zum Pessimismus, der Brahms nie mals ganz Herr werden konnte, andeutet. Auch Clara Schumann sagt ihm selbst in einem Briefe, sie fürchte sich vor der Düsternis und Kantigkeit seiner Seele, die sich gerade in diesem Satz offenbare, der mit dem Orgelpunkt des Beginns wieder abschließt. Der liebliche zweite Satz, der ebenfalls zwei musikalische Gedanken entwickelt, wird in der Mitte von dramatischen Erregungen gestört, die keinen inneren Frieden aufkommen lassen. Der dritte Satz ist, ganz entgegen der Gepflogenheit Beethovens, kein Scherzo oder Menuett, sondern ein graziöses Allegretto. Die schlichte Melodie des Beginns, die in ihrer Umkehrung fortgeführt wird, kann aber nicht den Ernst und die Resignation verhindern, die sich dann in diesem Satz durchsetzt. Gleich dem Anfangssatz beginnt auch der Schlußsatz mit einer Einleitung, die mit Spannung und Größe geladen ist. Dann entfaltet sich wiederum echt sinfonisches Geschehen — Brahms wählt die Sonaten form auch für den Schlußsatz. Das erste Thema mit seinem Anklang an den Hymnus der „Neunten“ steht dem weicheren, lyrischen zweiten Thema gegenüber, so daß sich auch hier dramatische Ballungen ergeben, die jedoch in eine strahlende C-Dur-Coda cinmünden, die dem Werk einen sieghaften Abschluß verleiht.