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Dort trug. Dort in dem furchtbaren Menschengewühl hoffte er am ehesten unerkannt zu bleiben. „Wer Hal dort Zeit, sich um den Andern zu kümmern," grübelte der junge Mann vor sich hin. „Und wer wirklich die Annonce gelesen, hat sie längst vergessen." Und trotz dieser Versuche, die qualvolle Unruhe seines Innern zu beschwichtigen, fand Hinrich Thormählen keinen Frieden mehr. Auf dem Schiffe wagte er kaum, sich seinen Mitpassagieren zu zeigen; er schützte Krankheit vor und blieb in seiner Kajüte, und wenn er wirklich einmal auf dem Verdecke erschien, hatte er das Gesicht sorgfältig verbunden, wie Je mand, der an heftigen Zahnschmerzen litt. Auch in New-Jork fand der Unglückliche nirgends Ruhe. Jeder, der ein Zeitungsblatt in die Hand nahm oder ihn nur einen Augen blick aufmerksam betrachtete, flößte ihm Entsetzen ein. Er wagte nur noch Abends auszugehen; am Tage blieb er ängstlich auf seinem Zimmer. Eines Nachts war Thormählen auf dem Heimwege begriffen, da schwankte ihm auf der Straße ein Betrunkener entgegen. Er wollte ihm ausweichen, doch der Andere steuerte gerade auf ihn zu, faßte ihn bei beiden Schultern und starrte ihm mit der Whiskyseligkeil eines Berauschten ins Gesicht, ohne ein Wort zu sprechen. „Warum sehen Sie mich so an?" keuchte Hinrich mühsam hervor; er fand nicht einmal den Muth, den Trunkenen energisch von sich ab zuschütteln, sondern sah nur in ihm einen Menscheifi der seine Aehn- lichkeit mit dem in der Annonce Beschriebenen feststellen wollte. Der Trunkenbold gab ihm sogleich statt aller Antwort einen Faust schlag ins Gesicht. Nun verlor auch Thormählen die Besinnung; der Zorn überwältigte ihn und er gebrauchte ebenfalls seine Fäuste, um damit den unerwarteten Gegner gründlich zu bearbeiten. Wie er noch damit beschäftigt war, sich für den derben Schlag bezahlt zu machen, fühlte er sich von hinten zurückgerissen, zur Erde geworfen, und nun regneten Pfüffe und Schläge von allen Seiten auf ihn ein. Ein An greifer wollte ihn beim Barte packen und gründlich zausen; aber als er den Bart plötzlich in der Hand behielt, schrie er sogleich: „Was ist das für ein Lump, er trägt einen falschen Bart! Schlagen wir die Kanaille todt!" Thormählen glaubte, sein letztes Stündchen sei gekommen, und unwillkürlich stieß er einen Hilfeschrei aus. Wirklich lockte derselbe einige Deutsche herbei, die für ihren Landsmann augenblicklich Partei ergriffen. Nun entstand eine großartige Schlägerei. Plötzlich wurden Messer gezogen und mit gellendem Schrei: „Ich bin getroffen!" stürzte ein Mensch darnieder. Jetzt stob die aufgeregte Menge nach allen Seiten auseinander. Nur Thormählen blieb noch am Boden liegen; er war zu erschöpft, um sogleich aufstehen zu können. Ein Amerikaner hatte ihm auf der Brust gekniet, während der Andere noch immer auf Kopf und Arme wüthend losgeschlagen. Den Deutschen war es nicht sogleich gelungen, ihren Landsmann aus den Händen der Angreifer zu befreien und vielleicht hatte deshalb einer zum Messer gegriffen, um die Feinde in die Flucht zu treiben. Thormählen fühlte sich einer Ohnmacht nahe und wäre mitten auf der Straße liegen geblieben; aber er wurde kräftig am Arme geschüttelt: „Lieber Freund, hier darfst Du nicht einen Augenblick länger bleiben. Siehst Du nicht, daß dort Einem das Lebenslicht ausgeblasen worden?" und er zeigte auf den Amerikaner, der im Blute schwamm und dessen blasses Gesicht eine Todesblässe bedeckte, denn er lag in der Nähe einer Laterne und das Gaslicht beleuchtete deutlich das starre, verzerrte Antlitz. „Ich bin ja völlig unschuldig an seinem Tode," murmelte Thor mählen, „denn man hat mir unterdessen auch schlecht mitgespielt." „Willst Du warten, bis die Polizei kommt, und dann gefangen werden? Nein, machen wir uns aus dem Staube, Landsmann! Ich glaube, dort tauchen schon dunkle Gestalten auf." „Ich kann kaum fort." „Du mußt, wenn Du Dir nicht mit Deiner dummen Faulenzerei den Galgen verdienen willst. Nur fort!" und ohne Weiteres riß der Deutsche seinen Landsmann in die Höhe und suchte mit ihm so rasch und vorsichtig als möglich in die nächste Straße zu schlüpfen. Es war die höchste Zeit. Wirklich fanden sich schon die Polizei beamten ein, die sich freilich begnügen mußten, den Todten fortzuschaffen, denn von den Mördern war jede Spur verschwunden. Man gab sich auch nicht weiter Mühe, sie zu entdecken. Gehörten doch solche Ereig nisse gerade in diesen Straßen New-Jorks nicht zu den Seltenheiten. „Da bist Du glücklich noch dem hänfenen Halsbande aus dem Wege gelaufen," begann der andere Deutsche, als sie aus dem Bereich der Polizei waren. „Mir konnten sie doch nichts anhaben, ich war ja völlig unschuldig," entgegnete Thormählen. „Ist es Mancher und muß doch daran glauben," war die Ant wort. „Wenn man Dich erwischt hätte, wärst Du gehangen worden und wenn Du zehnmal Deine Seligkeit verschworen, daß Du unschuldig feiest. Es war Beweis genug, wenn man Dich neben dem todten Amerikaner fand, und kein Advokat der Welt hätte Dich vom Galgen losreden können. Na, gute Nacht, Landsmann, wirst wohl Deinen Weg allein heimfinden," und der zweite Deutsche verschwand ohne Wei teres in einer Seitenstraße. Die Worte des Fremden machten auf Thormählen den gewaltigsten Eindruck. Langsam wanderte er seinem Gasthofe zu und legte sich augenblicklich zu Bett, denn er war uoch zu erschöpft und er fühl!« sich am ganzen Körper wie gelähmt; aber er konn^ uLn Schlaf nicht finden. Ruhelos wälzte er sich auf^rm Lager und er wurde die Gedanken nicht los, d>,; filödffH-zfls einstürmten. Der Landsmann hatte Reckt .Menn ihn die Polizei heute bei dem Leichnam gefunden, war er ein verlorener Mensch, er mochte zehnmal seine Unschuld betheuern. — Und völlig schuldlos den Dod büßen — das war doch furchtbar! — Ach, und auf sein unruhiges Herz stürmte jetzt unerbitt lich der Gedanke ein, daß um seinetwillen ein völlig Unschuldiger zum Tode verurtheilt worden. — Nein, nein, er durfte nicht länger schweigen, nicht länger sich feige verkriechen; er mußte Alles bekennen, mochte dann auch das Schlimmste über ihn Hereinbrechen. Erst als er diesen festen, unerschütterlichen Entschluß gefaßt hatte, schien etwas wie Frie den in seine Brust einzuziehen und er versank in einen erquickenden Schlaf. Als er am Morgeu erwachte, hätte er das nächtliche Abenteuer gern für einen Traum gehalten, doch fein blaugeschlagenes Gesicht verrieth ihm, daß er das Alles erlebt. Nun wurde ihm die grauen hafte Szene wieder gegenwärtig und er fühlte noch einmal die Angst nach, daß er nahe daran gewesen, bei aller Unschuld den Galgen zu besteigen. „Nein, nein, ein solch' schimpflicher Tod erwartet mich drüben nicht, selbst wenn ich Alles bekenne," murmelte er vor sich hin. Er ließ sich die neueste Zeitung geben; aber der gestrige Vorfall war noch nicht gemeldet, dagegen fand er im Jnseratentheil noch einmal Helenens Aufforderung, die jetzt zwanzigtausend Thaler bot und Jeden beschwor, in der allernächsten Zeit und auf telegraphischem Wege über die Per sönlichkeit Hinrich Thormählens und seinen jetzigen Aufenthaltsort Auskunft zu geben; wenn auch diese öffentliche Bitte spurlos verhalle, dann müsse schon in wenigen Wochen ein Unschuldiger den Tod erleiden. Hinrich Thormählen notirte sich die angegebene Adresse des Doktor Overkamp, zahlte im Gasthof seine Zeche und ohne Zögern, ohne sich nur noch einen Augenblick zu besinnen, eilte er auf das Telegraphen amt und ließ folgende Depesche aufgeben: „Der Mann, der wegen Ermordung Katharina Elwers verurtheilt worden, ist wirklich unschuldig. Komme selbst mit nächstem Dampfer, um Alles aufzuklären. Hinrich Thormählen." Nach Absendung dieser Depesche begab er sich sogleich zum Hafen und lies sich auf dem nächsten nach Hamburg abgehenden Dampfer einschreiben. Er hatte das Alles so ruhig ins Werk gesetzt, wie Jemand, der einem innern Gebote folgt und der gar nicht anders zu handeln vermag. Thormählen konnte das Abgehen des Schiffes'nicht erwarten; — ruhelos trieb es ihn umher, erst als der Dampfer die Anker lichtete und in See stach, beschwichtigte sich ein wenig sein unruhig klopfendes Herz. So sehnsüchtig hatte er noch niemals die Stunde erwartet, wo die Küste vor seinen Augen verschwand und ihn das offene Meer auf nahm, das ihn bald an sein Ziel tragen sollte. — Nur ein Gedanke quälte ihn noch. Wenn er zu spät kam und der Unglückliche bereits den Tod erlitten hatte? — Nein, nein, das war ja unmöglich! So hart durfte ihn Gott nicht strafen. Er hatte ja ohnehin genug dafür gebüßt, daß er nicht sogleich offen und ehrlich die Wahrheit bekannt, und keine ruhige Stunde mehr gehabt, wie er auch sein Gewissen beständig zu beschwichtigen gesucht. Rastlos hatte es ihn von Ort zu Ort getrieben und erst jetzt wurde es stiller in seiner Brust, wo er mit dem festen Entschluß zurückkehrte, durch ein offenes Bekenntniß seine Schuld zu büßen. Noch nie war Hinrich Thormählen die Ueberfahrt so lang vorge kommen als diesmal. Er zählte die Stunden, zuletzt die Minuten und konnte es in der Kajüte nicht mehr aushalten. Rastlos wanderte er auf dem Verdeck umher, als vermöge er damit den Lauf des Schiffes zu beschleunigen. Je mehr sich die Fahrt ihrem Ende zuneigte, je fieberhafter wurde seine Unruhe. Nun tauchte allmählig die Küste auf, und mit welch' seltsamen Gefühlen sah er die bekannten Gegenden wie der. Wenn er früher an ihnen vorübergesegelt, dann hätte er laut aufjauchzen mögen, und jetzt stürmten doch Gedanken und Empfindungen auf ihn ein, die ihm beinahe das Herz brechen wollten. Damals war er noch unschuldig und glücklich, damals klebte noch kein Blut an seinen Fingern, und welches Blut!! - Die Vergangenheit stürmte in ihrer ganzen Furchtbarkeit auf ihn ein und er hätte laut aufschluchzen mögen vor wilder Verzweiflung und namenlosem Weh! Doch er durfte sich nicht diesen zermalmenden Gedanken völlig überlassen; er hatte ja noch eine Aufgabe zu erfüllen — einen Unschuldigen zu retten, dann mochte sich das Schicksal für ihn erfüllen; für ihn blühte ohnehin auf dieser Welt weder Glück noch Frieden, das hatte er nur zu schmerzlich erfahren. Hinrich Thormählen war einer der Ersten, der an's Land stieg, sobald der Dampfer den Hafen erreicht hatte. Rasch miethete er einen Wagen und fuhr sofort zum Doktor Overkamp. „Ich muß den Herrn Doktor augenblicklich sprechen," mit diesen Worten trat er in das Bureau des Anwaltes. „Ist sehr beschäftigt," lautete die Antwort des Schreibers. „Ich heiße Hinrich Thormählen und komme —" Kaum hatte er seinen Namen genannt, so sprang der Schreiber auf und stürzte in das Nebenzimmer. Wenige Sekunden später trat Doktor Overkamp heraus. Auf seinem vollen, gutmüthigen und doch so gutmüthigen Gesicht prägte sich deutlich die Üeberraschung aus, die er empfand. Beide Männer betrachteten sich einen Augenblick, nachdem sie sich begrüßt hatten. Da war also Hinrich Thormählen doch kein Phantasiebild, wie Overkamp zuweilen gefürchtet, und der Mensch, der das Räthsel lösen sollte, das noch immer über jenem düsteren Borgange ruhte, stand vor ihm. — Eschenburg, noch besser der Juwelier, hatte den Mann ganz richtig beschrieben. Das war der breitschulterige, blonde Seemann, mit den großen, etwas vorstehenden Augen und der niederen gewölbten Stirn mit dem Grübchen im Kinn. Auch die Narbe der kleinen schwarzen Warze auf der Backe fehlte nicht, die leider damals der Juwelier nicht beachtet hatte. Wie groß auch die innere Aufregung des wackeren Anwaltes war, er wartete doch mit gewohnter äußerlicher Ruhe die Anrede des Andern ab. „Ich bin Hinrich Thormählen," wiederholte dieser mit fester Stimme. Overkamp nickte wie zustimmend mit dem Haupte. „Ich habe Ihre Depesche erhalten und bitte Sie um weitere Aufschlüsse." Mit einer Handbewegung nöthigte er Hinrich zum Leidwesen der Schreiber, in sein Kabinet einzutreten. Wohl hatte Doktor Overkamp sogleich nach Empfang der Depesche dem Gericht Mittheilung davon gemacht; aber er hatte selber nicht einmal gehofft, daß Hinrich Thormählen wirklich erscheinen würde. Vielleicht war das Ganze nur eine Täuschung, die auf irgend einen Betrug hinauslief. Dennoch war es Overkamp gelungen, durch seine Vorstellung für den theuren Freund wenigstens einen Aufschub zu bewirken, ja, es war nicht unmöglich, daß die über Eschenburg verhängte T^desstrak- in lebenslängliches Gefängniß verwandelt wurde. — Jetzt mußte mit dem plötzlichen Erscheinen des vermißten Thor mählen eine völlige Wendung in dem Geschick des unglücklichen Freun des eintreten. „Ich komme doch nicht zu spät?" begann der Fremde sogleich, und auf seinem Gesicht zeigte sich deutlich die Unruhe, die in seinem Herzen lebte. „Gott sei Dank, nein!" entgegnete der Anwalt. Hinrich Thormählen athmete tief auf. „Ja, Gott sei Dank!" wiederholte er, „denn der Mann, den die Gerichte verurtheilt haben, ist unschuldig." Er sagte dies mit solcher Bestimmtheit, daß Jeder die Ueberzeugung gewinnen mußte, der Sprecher wisse dies ganz genau. „Sie waren also der Seemann, der sich an jenem Morgen zu einer kleinen Operation bei Doktor Eschenburg eingefunden?" fragte Overkamp- Als Thormählen es bejahte, fuhr der Anwalt im Tone des Vor wurfs fort: „Warum sind Sie aber nicht eher gekommen?! Sie hätten meinem Freunde viele schwere Tage erspart, denn Doktor Eschenburg hat Furchtbares gelitten." „Doktor Eschenburg," stammelte Hinrich bestürzt, „der gute Doktor, bei dem Katharina als Wirthschafterin war?" Overkamp nickte mit dem Kopfe. „Haben Sie dies nicht gewußt? Alle Zeitungen haben ja von dem merkwürdigen Fall berichtet." „Ich habe damals keine Zeitungen gelesen und erst zu spät er fahren, daß jetzt das Leben eines Unschuldigen auf dem Spiele steht." „Katharina war Ihre Geliebte und Sie kennen genau die düsteren Vorgänge jenes Morgens?" Die klugen Augen des Anwalts ruhten dabei streng forschend aus dem Antlitz des jungen Mannes. Er mochte nicht sogleich seinen Verdacht aussprechen.