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Zur Einführung Fidelio F. Finke, der 1891 in Josephstadt (Nordböhmen) geborene, seit 1945 in Dresden lebende Komponist, Schüler Novaks am Prager Konservatorium, ist seit den ersten Kammermusikfesten in Donaueschingen (1922/23) bedeutsam mit Werken hervor getreten, die den Weg dieses einstigen Revolutionärs und Weggenossen Hindemiths y.u einem abgeklärten Klassizismus erkennen lassen. Dies wird besonders deutlich, wenn er in einem seiner jüngsten Werke der „Ciacona" von 1944, einen der Vor klassiker beschwört, wenn er diesem Werk eine - Violinkomposition des Italieners Tomasi Vitali (geboren um 1665, gestorben um 1747) zugrunde legt. Eine Ciacona — also ein Musikstück mit einem immer gleichbleibenden, stetig wiederkehrenden Baß, über den die Variationen aufgebaut sind. Berühmtes Beispiel dafür die Chaconne von Johann Sebastian Bach für Solovioline, ebenso berühmt die Chaconne ,die den letzten Satz der Vierten Sinfonie von Johannes Brahms bildet. Bei Finke handelt es sich nicht darum, das Vitalische Werk zu „instrumentieren", für den großen Apparat zurechtzu machen, er verwendet das Material vielmehr ganz frei, vergrößert die Anzahl der Variationen und faßt das Ganze mit einem bei dem Italiener nicht vorhandenen Vo und Nachspiel zusammen. Es ist mehr als das zufällige Zusammentreffen, als die äuße Formähnlichkeit, die uns an das Brahmssche Sinfonie-Finale denken läßt. Das Them das Brahms verwendet (ebenfalls kein eigenes Thema, es entstammt einer Kanatate Bachs), ist in der Hauptsache die aufwärtssteigende Molltonleiter. Das Vitali-Finke-Thema ist die abwärtsgleitende Molltonleiter. Es ertönt gleich zu Beginn in der originellen instru mentalen Form: Harfe und Streichbässe. In seiner einfachen Struktur ist es leicht, das ganze Stück hindurch zu verfolgen, auch dann, wenn es in Umkehrung erscheint, wenn es durch Zwischennoten ausgefüllt ist, wenn es rhythmisch auseinandergerissen wird. Immer wieder bildet es den festen Halt für die reiche Phantastik der Variationen, die melodisch und rhythmisch ungemein abwechslungsreich sind und auch in der Instrumen tation ein ungemein farbiges Bild ergeben. Eine ganz andere Haltung nimmt der Armenier Aram Chatschat urian in seinem Klavierkonzert ein. Es i^t ganz aus der freien Improvisation, aus dem Hang' zum rhapso dischen Sichausleben geboren. Gewiß zerschlägt der Komponist, der zu den bedeutend sten Köpfen der sowjetischen Musik gehört, nicht die klassische Form. Aber er erweitert sie, indem er dem Klavier ein starkes Sonderrecht einräumt. Das Orchester ist nur der allerdings sehr farbige und fesselnde Hintergrund, der manchmal ganz aufgegeben wird ir den Kadenzen, die mehr sind als bloße Virtuosenstücke, vielmehr die Fortführung des sinfonischen Gedankens durch den Solisten. Große dramatische Spannungen er füllen den ersten Satz, die an russische Vorbilder, aber auch an einen Musiker wie Bela Bartok denken lassen. Die Melodik des Mitteisatzes läßt am deutlichsten den Zu sammenhang dieser Musik mit den volkstümlichen Elementen aus der Heimat des Kom ponisten erkennen. Der letzte Satz ist dann wieder angefüllt von dramatischen Steige* rungen, die etwas Elementares an sich haben. Einen „verwegenen Klavierritt durch das wilde Kurdistan" hat ein Kritiker das Werk nicht unzutreffend genannt. Die Vierte Sinfonie von Johannes Brahms bildet zusammen mit der Achten Sin fonie Anton Bruckners einen neuen, einen letzten Höhepunkt der deutschen Sinfonik^ Der erste Satz ist auf drei Themen aufgebaut, deien erstes Sehnsucht, deren zweit^B mannhaftes Sichaufrecken, deren drilies gesteigerte Sehnsucht bedeutet. Die SchlunB Steigerung in der Coda, die auf das dritte Thema verzichtet, rückt die Tondichtung ins überpersönliche. Nicht die Sehnsucht des einzelnen, das Schicksal des Menschen über haupt ist dec Gegenstand des Werkes, mit dem Brahms sein instrumentales „Schicksals lied" geschrieben hat. Selbst das Andante gibt sich nur im Seitenthema, das die Celli wehmütig vor sich hinsingen, träumerischem Besinnen hin, im ganzen ist auch dieser Satz, dem eine Kirchentonart zugrunde liegt, auf einen unpersönlich-schicksalhaften Ton abgestimmt. Ja, das von den Hörnern angekündigte Hauptthema könnte man als das „Pochen des Schicksals an die Pforten" auffassen. Der dritte Satz erinnert in seinem grimmigen Humor halb an das Beethovensche, halb an das Brucknersche Scherzo. Aber es ist dennoch ein sehr echter Brahms, nicht nur da, wo sich in das lustige Treiben ein doppelter Kontrapunkt einschleicht. Die Anregung zu diesem Satz soll Brahms ein Relief Thorwaldsens „Der Alexanderzug" gegeben haben. Auf diese Weise wäre auch Brahms unter die Programmusiker gegangen. Die Krönung des Werkes, und damit des gesamten Brahmsschen Sinfonieschaffens, bildet das Finale. Die Unerbittlichkeit des Schicksals findet ihre symbolhafte Darstellung in der Form des Satzes, in der strengen Form der Chaconne, wie schon ausgeführt wurde. Es sind dreißig Variationen, mit denen Brahms die geniale Unerschöpflichkeit seiner Phantasie beweist. Dr. Karl L a u x