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Die Dresdner Philharmonie ist sich ihrer Aufgabe, junge Künstler zu fördern, voll bewußt. Wenn die Jugend nicht die Möglichkeit hat, sich an wirklichen Aufgaben zu erproben, mit den Erfordernissen des tatsächlichen musikalischen Lebens in Berührung zu kommen und sich mit ihnen auseinandersetzen zu können, nützt auch das gewissenhafteste und ernst gemeinteste Studium nichts. Bisher war es für den Nachwuchs schwer, sich Sicherheit im Umgänge mit erstklassigen Orchestern zu erwerben, weil es schwierig war, dort als Dirigent oder Solist mit noch keinem Namen anzukommen. Die Dresdner Phil harmonie erfüllt mit ihrer selbstgewählten Aufgabe, sich der künstlerischen Jugend anzunehmen, eine gesellschaftlich sehr wichtige Funktion, die der Er ziehung guten und besten Nachwuchses gilt. Es ist nicht hoch genug einzuschätzen, daß sich ein Or chester von solchem Rang dieser Aufgabe unterwirft. Das Programm sieht auf den ersten Blick etwas bunt aus. Mozart erscheint zweimal, mit seiner duftigen und glasklaren Figaro-Ouvertüre und mit dem ersten Satz aus einem seiner berühmtesten Klavier konzerte, dem Krönungskonzert in D-dur. Die Duftigkeit der Mozartschen Tonsprache verrät kaum, daß Mozart mit dem Figaro ein politisches Werk geschaffen hatte, das vor der Französischen Revo lution eine gesellschaftlich wichtige Aufgabe erfüllte. Das Krönungskonzert ist ein Spätwerk des mit 35 Jahren sterbenden Meisters, es zeigt ihn auf klassischer Höhe. Johannes Brahms ist mit seinen Haydn-Varia tionen, op. 56a, vertreten. Brahms ringt um tiefen menschlichen Ausdruck, er ist deshalb kein Klassiker mehr, weil die Kraft des Ringens die klassische Aus gewogenheit zerbricht. Da Brahms den St.-An- tonius-Choral Haydns als Thema aufgreift, will man in den acht Variationen eine Art Darstellung der Versuchung des heiligen Antonius sehen. In Deutschland ist der französische Komponist Eduard Lalo ziemlich unbekannt, abgesehen vori der oft gespielten Sinfonie espagnole. Das Cello- Konzert ist ein nobles Werk, das das Können dieses französischen Kleinraeisters zeigt. Hector Berlioz, ebenfalls ein Franzose, ist ihm gegenüber ein Vulkan. Er ist glühend von Musikalität, rücksichtslos in seiner eruptiven Kraft — er zer sprengt die bisher geheiligte musikalische Form der Sinfonie. Die Echtheit und Wahrheit seines Aus druckes, seiner Gefühle gehen ihm über alles, er gibt zugunsten seiner seelischen Erregungen und Ek stasen das Gebändigte, das in der Form wurzelt, auf. Er ist der Schöpfer der Programmusik neben Franz Liszt, er hat mit der Einfiihrung seiner idöes fixes Wagners Leitmotivtechnik vorbereitet. Der Titel „Römischer Karneval" deutet die Grundidee des zu hörenden Werkes an. Glanz, Pracht, Tumult und Lebensfreude sprechen aus dieser Ouvertüre. Richard Strauß ist ohne Berlioz nicht denkbar. Die Kunst der Instrumentation und die Übernahme des Programmes als Baugerüst für seine Werke geht auf den französischen Romantiker zurück. In seiner Burleske in d-moll versucht der frühe, junge Strauß sein romantisches Temperament noch in eine klas sische Form zu zwängen. Aber überall bricht die unbändige Musizierlust Straußens durch, schon im Thema, das die Pauken aufspielen, ist er mehr romantischer Musikant als klassisch-kühler Kopf. Tschaikowskv ist wohl der legitimste Erbe Ber- lioz'scher Musikauffassungen. Wenn man die Ge schichte und das Schicksal der beiden Liebenden Romeo und Julia kennt, versteht man auch die Ouvertüre-Fantasie, die sich an die hergebrachten Formen nicht mehr halten kann, da die Fabel einen ganz anderen musikalischen Ablauf vorschreibt. Es ist ein großer Bogen, der das Konzert umspannt. Von Mozart bis Richard Strauß reicht er. Er spiegelt die Wandlung der Musik von der Klassik bis zur Spätromantik wider. Dieser Wandel geschah im Auflauf von hundert Jahren — und dieses in so ge drängter Kürze zu überschauen, ist höchst in teressant. Johannes Paul Thilman. 2. Außerordentliches Konzert am Sonnabend, dem 17. September 1949, 19 Uhr, mit polnischen Gästen. Solistin: Nora Boulanqer, Klavier.