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ZUR EINFÜHRUNG Die vor reichlich hundert Jahren von Franz Liszt begründete, in seinem Schüler- und Freundes kreis weitergeführte und dann kurz vor der Jahrhundertwende durch Richard Strauß auf un geahnte Höhen geführte Gattung der sinfonischen Dichtung, das heißt also eines musikalischen Werkes, das einem bestimmten, literarischen, malerischen oder aus der Natur geschöpften „Programm“ folgt und aus ihm seine Formgesetze ableitet, hat in musikästhetischen Ausein andersetzungen seit je ein lebhaftes Für und Wider erregt. Die Vertreter einer sogenannten „absoluten“ Musik verwarfen den Gedanken einer Verbindung von Musik mit angeblich außer musikalischen Vorstellungen, ohne zu bedenken, daß beispielsweise auch ein Werk wie die scheinbar „absolute“ 5. Sinfonie von Beethoven offenkundig Träger bestimmter Ideen ist. Da gegen wiesen die Anhänger der Programmusik darauf hin, daß die manchmal durch klang malende Kunstmittel vorgenommene Nachahmung oder Widerspiegelung von Bildern der Natur oder dichterischer Gedanken eine sehr alte Vorliebe der Komponisten bedeute und daß Musik ohne Ideengehalt zwangsläufig einer inhaltlosen technischen Spekulation verfallen müsse. Den erlösenden Gedanken hat Richard Strauß ausgesprochen, als er sagte: „Auch Programmusik ist nur da möglich und nur dann in die Sphäre des Künstlerischen gehoben, wenn ihr Schöpfer vor allem ein Musiker mit Einfalls- und Gestaltungsvermögen ist.“ Einer solchen Forderung entsprach kaum ein anderer Komponist sinfonischer Dichtungen besser als Bedrich Smetana (1824-1884). Schon in jungen Jahren war der zunächst gänzlich unbekannte tschechische Musiker mit dem auf der Höhe seines europäischen Ruhmes stehenden, außerordent lich großzügigen und hilfsbereiten Franz Liszt in Verbindung getreten. Er begeisterte sich für dessen neuartige Tonsprache, vor allem aber für Liszts Überzeugung, daß die Musik des 19. Jahr hunderts nicht allein gekennzeichnet sei durch ihre innige Verschmelzung mit dichterischen und naturhaften Vorstellungen und Programmen, sondern daß ihre Haltung vor allem auch durch ihren nationalen Charakter bestimmt sei. So gewann Smetana sehr bald die Gewißheit, daß der Befreiungskampf der tschechischen Patrioten gegen die Habsburgische Kaisermacht und die reaktionären, zur Kollaboration mit Österreich bereiten Kreise nicht ohne die Hilfe der Musik geführt werden könne. So entwickelte sich Smetana zu einem bewußten Kämpfer für die tsche chische Unabhängigkeit. Seine Opern und Instrumentalwerke sind nicht denkbar ohne diese von ihm klar erkannte Aufgabenstellung. Auch „Mein Vaterland“, ein sechsteiliger Zyklus von sinfonischen Dichtungen, wurde ein ge wichtiger Beitrag zur tschechischen Nationalkultur und ein Teil des ideologischen Kampfes. Er ist wesentlich mehr als nur eine Folge historischer oder landschaftlicher Bilderbogen! Smetanas Tat ist um so bewunderungswürdiger, als er gewissermaßen einen Mehrfrontenkrieg führen mußte. Zudem traf ihn persönlich das größte Leid, das einem Musiker widerfahren kann: Wie Beethoven verlor er sein Gehör. Aber statt zu resignieren, verdoppelte er seinen Arbeitseifer. In denselben Wochen des Jahres 1874, in denen ein Nervenleiden eine rasche Zersetzung seines Hörvermögens mit sich brachte, begann er die Arbeit am Zyklus „Mein Vaterland“, den er nach Unterbrechungen durch die Komposition mehrerer Opern und etlicher Instrumentalwerke Ende 1878 beendete. Er hat also niemals mit dem äußeren Ohr vernommen, was seine Phantasie auf das Notenpapier gebannt hatte!