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Dmitri Schostakowitsch (geb. 1906) Sinfonie Nr. 10 op. 93 Dmitri Schostakowitsch, der bedeutendste Sinfoniker unter den zeitgenössischen Kompo nisten im internationalen Maßstab, schrieb seine 10. Sinfonie, op. 93, im Sommer 1953. Das Werk, dem kein eigentliches Programm zugrunde liegt, zählt zu den gewichtigsten Schöpfungen des großen sowjetischen Meisters. Am 17. Dezember 1953 wurde es in Lenin grad erfolgreich uraufgeführt, im Mai 1954 stellte es Franz Konwitschny in Berlin zum ersten Male der deutschen Öffentlichkeit vor. Seitdem erscheint die „Zehnte“ als ein besonderer Markstein auf unseren Konzertprogrammen. Die schwermütige Grundhaltung der Sinfonie, auch ihre melodische Atmosphäre gemahnen etwas an Tschaikowski. Überhaupt zeigt das faszinierende Werk in seiner jähen Kontrastierung von monoton-melancholischen und aufpeitschend-vitalen, dramatischen Partien eine unverkennbar nationalrussische Eigen art. Der Moskauer Musikwissenschaftler Peter Galchin, einer der besten Kenner dieser Schöpfung Schostakowitschs, schreibt einmal über den Aufbau der Sinfonie im einzelnen folgendes: „Die Zehnte Sinfonie besteht aus vier Sätzen. Der erste Satz (Moderato) beginnt mit einer langsamen Einleitung, einer Musik voll tiefer Nachdenklichkeit. Später erscheint — in der Klarinette — eine zu Herzen gehende Melodie, das Hauptthema des ersten Satzes. Es hat einen stark nationalrussischen Charakter und wird nach und nach dramatischer be handelt. Mit dem lyrischen Seitenthema in der Soloflöte kommen allmählich unruhige und erregte Stimmungen in die Musik, die immer mehr anwachsen bis zu äußerster dra matischer Spannung. Dem von neuem auftauchenden Thema des einleitenden Moderato verleihen die Klänge der Pauken und der kleinen Trommel unheilverkündende Züge. Mit ihm verflechten sich die beiden lyrischen Themen, und es entsteht das Bild eines leiden schaftlichen, quälend angestrengten Kampfes. Aber noch führt hier der Kampf nicht zum Sieg des lichten Elements. Wohl klingt das zweite Thema gegen Ende des Satzes wärmer und weicher, aber noch nicht beruhigt. Am Schluß kehrt die Musik der Einleitung wieder. Der zweite Satz (Allegro) ist in einer ununterbrochenen, stürmischen Bewegung gehalten, als ob sich ein unheimlicher, zerstörender^Wirbelwind erhoben hätte, der alles auf seinem Wege mit fortzureißen droht. Der Wirbel der kleinen Trommel, das Pfeifen der Pikkoloflöte und der grelle, schreiende Klang der Klarinette ergeben ein plastisches Bild vom Wüten wilder, dunkler Kräfte, wie wir sie in den Werken Schostakowitschs aus den Kriegsjahren finden. Die Musik klingt wie das Mahnen vor einem drohenden neuen Krieg, wie zorniger Protest und feste Kampf entschlossenheit. Der dritte Satz (Allegretto) gründet sich auf die Entwicklung dreier Themen. Besonders lieb lich ist das tänzerische erste Thema. Die drei Themen sind mit den Themen des ersten Satzes verwandt, so entsteht der Eindruck, als fahre der Komponist hier in der Erzählung fort, die durch den Wirbelsturm des zweiten Satzes unterbrochen wurde. Große Ausdrucks kraft und Spannungsgeladenheit zeichnen das zweite kurze Thema aus. Wiederholt auf tauchende Rufe des Horns (drittes Thema) führen zur Wiederkehr der „Musik der Nachdenk lichkeit“ aus der Einleitung zum ersten Satz. Unerwartet brechen fordernd scharfe Klänge herein, welche die Stimmung der Beschaulichkeit und Nachdenklichkeit völlig zu zerstören drohen, doch schaffen die Rufe des Waldhorns wieder etwas Beruhigung. Das Finale (Andante-allegro) beginnt, wie der erste Satz, mit einer langsamen Einleitung: Den gedämpften Läufen der Celli und Bässe antwortet die einsam rufende Stimme der Oboe. Aber die traurige und klagende Musik wird von den leisen, aus der Ferne her dringenden Rufen der Klarinette und Flöte durchbrochen. Daraus entsteht das Haupt thema des Finales. Es versetzt den Zuhörer in eine völlig andere Welt. Das Thema ist voller Bewegung und Fröhlichkeit, in ihm klingen die Melodien sowjetischer Pionierlieder an. Im Reigen ziehen, eine die andere ablösend, lebensvolle, energische Melodien vorüber, in denen man das Pulsieren junger Kräfte spürt. Die Woge froher Erregung erreicht ihren höchsten Punkt und reißt auf ihrem Gipfel die hier von neuem auftauchenden dramatischen Themen aus der Einleitung zum Finale und aus dem dritten Satz an sich. Für kurze Zeit kehren, wie eine Erinnerung an das Durchlebte, die traurigen, klagenden Melodien wieder. Aber eine neue, noch höhere Woge jugendlicher Energie und herzlicher Fröhlichkeit spült die Bilder der Erinnerung fort. Sie festigen sich in neuer Gestalt und fließen zu einer Musik zusammen, die das Streben der sowjetischen Menschen nach Frieden und nach Glück ausdrückt. Dieter Härtwig Heinz Bongartz: Patria o muerte Mit harten Paukenschlägen und scharf dissonierten Akkorden beginnt dieses kurze Musik stück. Es schildert die Wutgeschreie eines unterdrückten Volkes. Mit einem scharfen Motiv führt ein herrisches Thema zu einer lyrischen Episode, worin auch die Internationale auf klingt. Die Sehnsucht nach Befreiung drückt ein kurzes Thema aus, Trompetensignale er öffnen die Revolution, die sich zu dem siegreichen Abschluß — der den Marsch des 26. Juli zum Inhalt hat — steigert. R Wolfgang Amadeus Mozart (1756-1791) Sinfonie g-Moll K.-V. 550 Im Sommer des Jahres 1778 schrieb Mozart seine drei letzten großen Sinfonien in Es-Dur, g-Moll und C-Dur, von denen die dritte nach seinem Tode den Namen „Jupitersinfonie“ erhielt. Dr. Arthur Schurig charakterisiert die Es-Dur-Sinfonie als „Ode an den sommer lichen Abendfrieden“, die in g-Moll als „Elegie“, die in C-Dur als Siegeshymne“. Vermutlich schrieb Mozart diese drei grundverschiedenen Sinfonien, die ihn auf der Höhe seines Schaffens zeigen, in der Hoffnung, damit in „Subskriptionskonzerten“ Einnahmen zu erzielen, die er bei seinem kärglichen Gehalt von jährlich 600 Gulden als „K-K. Kammer- kompositeur“ dringend benötigte. Die erhofften Konzerte kamen jedoch nie zustande; so verbleibt Mozart weiterhin in armseligen äußeren Umständen und muß sich selbst in tausend Nöten und Sorgen immer von neuem wiederfinden. — Die g-Moll-Sinfonie ent hüllt uns mit unbarmherziger Härte das tiefe, ausweglose Leid des Schöpfers des „Don Giovanni“. Unerbittlich wird die finstere, pessimistische Grundstimmung in allen 4 Sätzen festgehalten und bis zum letzten, bitteren Ende ausgekostet. — Ohne Einleitung, nur mit einem Takte vorweggenommener Begleitung erklingt zu Beginn des 1. Satzes ein Thema, dessen zwölfmal wiederholtes Motiv auf der fallenden kleinen Sekunde nichts Lebens bejahendes hat, sondern wie eine flehentliche Bitte wirkt. Mit schneidenden Dissonanzen antwortet das Tutti des Orchesters. Nach einer Generalpause dämpft das 2. Thema, das in durchbrochener Arbeit von Streichern und Bläsern getragen wird, den Ausbruch zu ge dämpfter Klage ab. Doch es vermag nur vorübergehend Beruhigung zu geben. Mit einem kühnen modulatorischen Ruck nach fis-Moll beginnt die Durchführung, in deren Verlauf sich die Spannung des Satzes in explosiven Entladungen der sich gruppenweise gegen übertretenden Instrumente austobt. „Es gibt nicht leicht eine Mozartsche Durchführung, die von derselben seelischen Energie getragen wäre“, schreibt Hermann Abert, Die Reprise drängt die beiden Grundgegensätze, wildes Anstürmen und resigniertes Abflauen des Affekts, in imitatorischen Einsätzen noch einmal auf engstem Raume zusammen. Das Andante ist ebenfalls ein Sonatensatz, der mit lastenden Tonwiederholungen, schweren Sekundvorhalten und chromatischem Baßgang die düstere Grundstimmung beibehält.— Im Nachsatz des Hauptthemas verrät ein Motiv, das die Bildnisarie des Tamino aus der „Zauber flöte“ vorwegnimmt, zwar überquellende Empfindung, doch die gleich darauf einsetzende Zweiunddreißigstelfigur bringt alles wieder zum Zerflattern. Der gleichbleibende Rhythmus des Hauptthemas dominiert immer stärker im Verlaufe der Durchführung und Reprise, in der der Nachsatz des 1. Themas in genialer Weise mit dem 2. Thema kontrapunktisch ver knüpft wird. .Das Menuett greift die Kampfstimmung des 1. Satzes in gesteigertem Maße wieder auf. Sein Hauptthema beginnt mit zwei Dreiaktern, denen der Nachsatz noch eine Fort- spinnung von 2 Takten hinzufügt, um wieder mit einem Dreitakt zu schließen. Durch diese metrische Verschiebung, durch strenge Zweistimmigkeit der Satzführung und die Imitationen, in denen die dreitaktigen Glieder verhakt sind, entsteht geradezu der Ein druck verbissenen, wilden Trotzes. Vorübergehend trösten Streicher und Bläser im Trio mit einer echt volkstümlichen österreichischen Melodie, deren Sehnsucht von den Wald hörnern in romantischen Klang eingehüllt wird. Das Finale beginnt mit einem aufsteigenden Dreiklangmotiv, das in einen frei einge führten Vorhalt auf der kleinen Sekunde ausmündet. Dieses Thema, das wie ein Pfeil, der eine scharfe Wunde schlägt, emporschnellt, löst ein wildes Echo des vollen Orchesters aus. Beständiger Wechsel zwischen piano und forte steigern die Erregung bis ins Wilde und Unheimliche. Auch das 2. Thema, das zunächst positiv, von Geigen und Bratschen einge führt wird, wird schon im Nachsatz in die für die ganze Sinfonie typische schmerzliche Chromatik aufgelöst. Die Durchführung bringt äußerste Steigerungen. In Unisonoschlägen, im erneuten Ansturm des Hauptthemas mit der verschärften großen Septime, in metrischen Rückungen, schneidenden Trioien verdichtet sich die Aussage Mozarts zu einem Ausbruch von erschreckender Wildheit, der, immer wieder aufgepeitscht, erst mit der schrillen Disso nanz auf dem verminderten Septakkord vor der Reprise jäh abreißt. In der Reprise mündet der Strom der Leidenschaft allmählich in die schmerzvolle Welt der Haupttonart g-Moll zurück, der Ausklang bleibt der Finsternis und Trostlosigkeit verhaftet. Nie wieder hat Mozart mit so erbarmungsloser Konsequenz und Offenheit sein leidgequältes Inneres ent hüllt. Es gibt wohl kein Werk, das geeigneter ist, die romantische Legende von dem in immer ungetrübter Harmonie dahinschwebenden „Götterliebling“ Mozart gründlicher zu zerstören, als das erschütternde Bekenntnis dieser Sinfonie. Fr. Sp.