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Die „Phantastische“ von Hector Berlioz Als Richard Wagner die ersten Kompo sitionen von Hector Berlioz, „dem Vater der modernen Programm-Musik“ hörte, be gann er im Jahre 184t den Entwurf eines ziemlich unbekannten Aufsatzes über die „Neue französische Musik“, in dem es u. a. heißt: „In diesem Berlioz flammt und fun kelt die Jugend eines großen Mannes. Seine Symphonien sind die Schlachten und die Siege Bonapartes in Italien. Er ist zum Konsul gemacht worden, er wird Kaiser, er erobert Deutschland und die Welt... Diese gigantischen Schöpfungen, Kinder der Jugendstürme eines über flutenden Genies, werden noch leben, wenn das dankbare Frankreich dereinst am Grabe ihres Schöpfers ein stolzes Marmordenkmal errichtet haben wird.“ Daß Berlioz, dessen Werke erst von Deutschland aus bekannt wurden (ebenso wie die Bizets), sich die Welt erobert hat, damit hat der seinen Spuren folgende Wagner schon damals recht behalten, wah rend das „dankbare Vaterland“ eigentlich recht lange säumte, bis es die Bedeutung eines seiner größten Meisters erkannt hatte. Wie Beethoven und Wagner, wie Gluck und Mozart hat auch Hector Berlioz, der uns längst eine klassische Erscheinung ge worden ist, die üblichen Vorwürfe ein geengter Betrachtung seines künstlerischen Wesens und Willens zu ertragen gehabt. Allerdings war auch Berlioz — trotz der vor allem auf formalem Gebiete liegenden Beziehungen, die ihn mit der Sinfonie der Beethovenschen Epoche verbinden — in den Grundzügen seiner Art keine rückwärts orientierte Persönlichkeit. Eine musikalische Kampfnatur, ein polemischer Aeslhet, drängteer die Musik neuen Ausdrucksmög lichkeiten und neuen Anbauungsflächen zu, ohne dabei freilich die innere Zwiespältig keit seines überhitzten und gereizten Tem peraments in Kunstwerken vollster Aus geglichenheit restlos auflösen zu können. Und doch ist er ein Klassiker, dieser Ro mantiker. Und sein klassischstes und zu gleich charakteristisch-sinfonisches Werk: Die Phantastische Sinfonie. Das Programm, das der „Phantastischen“ zugrunde liegt, ist von Berlioz selber zu stark betont worden, als daß man daran vorbeihören könnte. Und er hat sich auch selber — vom ersten Erfassen des Planes an — zu tief in dieses Programm hinein gekniet, als daß er darüber hinaus hätte komponieren können. Der Roman des „Künstlers mit der lebhaften Einbildungs kraft“, der die Unterlage dieser Sinfonie bildet, ist ein Schlüsselroman. Berlioz hatte seine Freude daran, daß man „den Helden und die Heldin unschwer erkennen“ werde: ihn selber, den Sechsundzwanzig jährigen, kurz vorher der Medizin Ent laufenen, und seine Geliebte. In späteren Jahren hat Berlioz allerdings das schrullige und geheimnisvoll-unklare Programm als überflüssig abgelehnt. Er konnte aber nicht verhindern, daß die vielen Dutzende von Kommentatoren und weisen Ausdeutern ihre grauen Theorien dieser armen Sinfonie angenagelt, alle möglichen fernliegenden Dinge herausgeschält haben und das Nächstliegende — den Musiker Berlioz, der doch auch in dieser Sinfonie iii erster Linie Musik machen wollte und (wie man hinzu fügen darf) in der Tat auch Musik gemacht hat, die deutschem geistigen Kulturboden ihre Entstehung verdankt, über all dem ganz vergessen haben. Viel wichtiger nämlich als die Kenntnis des der Partitur beigegebenen Programmes ist für die Beurteilung der Sinfonie die Tatsache, daß die „Phantastische“ in Wirk lichkeit eine „Faust-Sinfonie“ ihres Schöp fers ist, der in seinen „Lebenserinnerungen“ selbst den stetigen Einfluß des Goetheseben „Faust“ auf dieses Werk betont. Dem Iro niker, Skeptiker und Spötter Berlioz ist dabei natürlich die Gestalt des stets ver neinenden Geistes Mephisto — die in einer geradezu unheimlichen Charakteristik aus dem „Hexensabbat“-Satz emporwächst — in besonderer Deutlichkeit musikalisch er schienen. Wie ja überhaupt die beiden letzten Sätze des Werkes — trotz alles Bizarren, das sie enthalten — durch die Kühnheit ihrer Bilder wie ihrer Mittel und durch die wahrhaft geniale Art, mit der sie ihre Ideen musikalisch durchsetzen - vor allem auch da, wo frech ein Ideal in die Gosse getreten wird und ein Engel antlitz sich zur Fratze verzerrt — doch als die interessantesten und in ihrer leuchten den Koloristik kaum erreichten anzu sprechen sind. Richard Wagners Urteil über die „gefürchteten“ Finalsätze war: „Ein ungeheurer innerer Reichtum, eine heldenkräftige Phantasie drangt einen Pfuhl von Leidenschaften wie aus einem Krater heraus. Was wir erblicken, sind kolossal geformte Rauchwolken, nur durch Blitze und Feuerstreifen geteilt und zu flüchtigen Gestalten gemodelt. Alles ist ungeheuer kühn, aber unendlich wehtuend.“