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DON JUAN EINE KLASSISCH = ROMANTISCHE PHANTASMAGORIE FÜR GROSSES ORCHESTER V. WALTER BRAUNFELS ♦ EIN BEITRAG ZUR ERSTAUFFÜHRUNG IN CHEMNITZ AM 3. NOVEMBER 1928 EDUARD MORIKE Der Don Juan der Weltliteratur ist der Mensch der Renaissance, der Ich-Mensch, der Willens-Mensch, der Mensch der Tat. Die gesteigerte Verkörperung des alles be jahenden Lebensgenusses, der Vitalität. Der Freudenrausch, der im faustischen Ringen mit Hölle und Tod sein Ich be haupten will. Der sprühende, rücksichts los fordernde, rücksichtslos opfernde, kraft strotzende, vom Leben berauschte, durch Lebensgenuß berauschende Vertreter des sich über alle Hemmnisse und Schranken hinwegsetzenden Ichtums. Die genialste musiKalische Incarnation dieses Begriffes ist das Champagnerlied von Mozart. Aufreizender Rhythmus, sieg hafte, strahlende melodische Linie, leben strotzende Harmonisation, dahin jagendes Tempo — ein großer gewaltiger Atemzug im Jauchzen der betörten Vitalität — das ist alles Mozarts genialer Wurf. Davon geht Braunfels in seinem Orchesterwerk aus. Audi Braunfels setzt sidi musika lisch mit den Don-Juan-Erscheinungen aus einander, nimmt aber als Konzentrations punkt seiner Tondichtung das Cham pagnerlied von Mozart, von welchem aus er in schillernden Farben, wie in bunten Prismengläsern, Streiflichter über die Er scheinung Don Juans wirft. Braunfels sdireibt nicht ein nadi allen kunstvollen Regeln aufgebautes Variationswerk, son dern eine klassisch-romantische Phantas- magorie. Wie in einem zauberhaften Hohl spiegel zeigt er uns seinen Helden in ver schiedenartiger Belichtung, deren Kern immer wieder, im Hauptthema von Mozart verkörpert, durchleuchtet. Dadurch kann sich Braunfels auch nicht nur auf das Champagnerlied und auf Va riationen desselben beschränken — er muß die übersinnlichen, irrationalen Welten mit liineinspielen lassen, die sich der alles for dernden Lebensbejahung Don Juans ent gegensetzen müssen, für welche das urewige Gesetz des Vergehens ebenfalls vorhan den ist. Eine kurze Einleitung eröffnet das Werk. Aus den zwei ersten Takten des Mozart- schen Themas wird ein kleines Motiv zum Anfang gebildet. Zweimal unterbrochen durch einen mysteriösen Bläserakkord (Holz- und gedämpfte Blechbläser), dann stürmt das Motiv aufwärts, als ob sich Lebenskräfte zusammenballen — eine Tempoveränderung. Die langsam aufstei genden Violinskalen aus der Ouvertüre von Mozart: das Erscheinen des Komturs, des Vertreters der irrationalen Welt. Don Juan singt sich los: wieder das Motiv des Themas. — Feierliche Posaunenakkorde. Unverändert das Thema des Komturs von der Szene auf dem Kirchhof: „Verbrecher! Entweiche! Gönne Ruhe dem Toten!“ — Ein Mahnruf! — Der Ich-Mensch regt sich. Eine geniale Steigerung des Orchesters leitet über: Das Thema, das Champagner lied braust in vollen Farben der modernen Orchestration dahin. Unmittelbar schließen sidi die sogenannten Variationen an. Alle an Farbe und Stimmung verschieden, nicht sklavisch dem Thema folgend, sondern in freiester, melodischer wie rhythmischer Gestaltung. Mit meisterlichem kontrapunktlichen Können lebt sich Braunfels in seiner Phantasie weit aus. Hier nur einen Takt ausnützend, dort wieder überraschender Tonartwechsel, dann kühne rhythmische Veränderungen. Der erste Teil zeigt uns Don Juan selbst. Der zweite Teil bringt den notwendi gen Gegensatz. Die gedämpften Streicher bilden mit einer Begleitfigur, entnommen dem Thema, die Unterlage zu einem kla genden D-moll-Thema der Oboe und spä ter der Klarinetten. Die Ersdieinung El viras, Symbol der Geopferten, die, noch in Liebe befangen, klagen. — Im Pianissimo unter dem rhythmischen Motiv erstirbt der Satz. Neue Veränderungen beginnen. Un- ersdiöpflich scheint das Motiv zu sein. Das moderne Ordiester entfaltet alle Klang möglichkeiten. Es sprüht, zuckt, fiebert, jagt, peitsdit, kichert, stürmt, braust, häm mert, neckt, spritzt, leuchtet, flattert, pol tert, flimmert, jubiliert — ein Taumel der Sinnenlust, ein faunisches Fest der Vitali tät, herausgeholt das Letzte aus dem Mo- zartschen Thema. Vierter Teil. Der elegante Kavalier erscheint. Das Zweiviertel-Thema wird umgewandelt in drei Viertel. In liebens würdiger, chevaleresker Weise schmeicheln die Celli, flirten die Violinen — die Holz bläser sind befangen, in stockendem Rhyth mus unterbrechen sie das Schmeicheln der Streicher. Alles unterliegt dem Zauber Don Juans. Besonders charakteristisch das Zögernde der Oboen und Englisch Horn. Keusch, mädchenhaft — Don Juan siegt! Fünfter Teil. Brutal das Hauptmotiv. Dann in chromatischen Gängen die Vio linen. Ein Stocken. Etwas Unheimliches will sich melden. Zwei neue Themen —