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KONGRESS-SAAL DEUTSCHES HYGIENE-MUSEUM Sonnabend, n. November 1961, 19.30 Ubr Sonntag, 12. November 1961, 19.30 Uhr 3. Philharmonisches Konzert Prof. Heinz Bongartz SOLIST Anton Ginsburg, Moskau Karl Amadeus Hartmann geb. 1905 6. Sinfonie Adagio-appassionato-allegro moderato con fuoco Toccata variata (Presto-allegro assai) Robert Schumann 1810—1856 Konzert für Klavier und Orchester a-Moll op. 54 Allegro affettuoso Andantino grazioso Allegro vivace Johannes Brahms 1833—1897 Serenade D-Dur op. 11 Allegro molto Scherzo: allegro non troppo Adagio non troppo Menuett Scherzo: allegro Rondo: allegro Zur Einleitung Karl Amadeus Hartmann, 1905 in München geboren, wurde nach Studien an der Akademie seiner Vaterstadt Schüler von Hermann Scherchen und später des ,,Zwölf toners“ Anton von Webern. Seine Musik reißt nie die Verbindung mit der Spät romantik ab, mischt Tonalität (Gebundenheit an eine Tonart) und Atonalität, wendet sich aber gegen jede Orthodoxie der Zwölftonlehre. Sein starker Hang zum Expres sionismus (zur Ausdruckskunst) lehnt sich mehr an den frühen Strawinski und in den freien Metren an Boris Blacher an. Die Neigung zum Improvisatorischen und Rhap sodischen ist allen seinen Werken eigen: Den Dramen, wie „Simplizius Simplizis- simus“, den Kammermusikwerken, Solokonzerten wie seinen sieben Sinfonien. Die Besetzung der Sechsten Sinfonie von Karl Amadeus Hartmann setzt wahrhaftig ein ,,großes Orchester“, wie die Partitur angibt, voraus. Sie sieht vor neben den Streichern drei große Flöten (auch kleine Flöten), drei Oboen (auch Englisch Horn), drei Klarinetten (auch Baßklarinette), zwei Fagotte mit einem Kon trafagott, Hörner, Trompeten, Posaunen mit Tuba, Harfen, Klavier (sogar vier händig), Celesta, Mandoline, Pauken und eine ganze Kavalkade von Schlagzeug werken mit Glockenspiel und zwei Xylophonen. Hinweise wie ,,weiche (oder harte) Dämpfer“ bei den Trompeten, ,,lederüberzogene Holzschlegel“ beim Xylophon, ,,G-Saite um einen halben Ton tiefer stimmen“ bei den Mandolinen, drittgeteilte erste Violinen, ,,Becken mit Holzschlegel anschlagen und feinen Metallstab auflegen“ lassen eine bunte Skala von Farbtönen aufklingen. Ein machtvolles Kolossalgemälde von intensivster Expressivität beginnt im ersten Satz (Adagio) zunächst in den Fagotten, Englisch Horn und Pauken und steigert sich unter dynamisch-farbiger Mitwirkung des ganzen Orchesters, tempomäßig über ein Andante und Appassionato (leidenschaftlich) und con fuoco (mit Feuer) bis zum breiten ^ifcgfo-Höhepunkt. Im zweiten und letzten Satz, Toccata variata (gehämmertes Stück mit Variationen) überschrieben, fangen nach einer kurzen Bläser-Einleitung die Bratschen an, ein Fugenthema aufzusagen, die Streicher, Schlagwerk und schließlich die Bläser beteiligen sich daran. Hinter dieser Gelehrsamkeit von drei fugenartigen, stürmenden Wellen des letzten Satzes verbirgt sich letzten Endes bajuwarische Diesseitigkeit, die die Linie Reger-Hindemith bis zur modernsten Moderne fortsetzt. Das Klavierkonzert in a-Moll op. 54 von Robert Schumann ist in den Dresd ner Jahren (1845) zusammen mit der zweiten Sinfonie in C-Dur op. 61 entstanden. In Schumanns Handexemplar des Klavierkonzertes lesen wir: ,,Erster Satz, der ein abgeschlossener Satz war, unter dem Namen ,,Phantasie“ komponiert in Leipzig im Mai 1841, die anderen Sätze in Dresden Mai und Juli 1845.“ Seine Frau, Clara Schu mann geborene Wieck, schrieb im Tagebuch am 27. Juni 1845 dazu: ,,Robert hat zu seiner Phantasie für Klavier und Orchester in a-Moll einen letzten schönen Satz gemacht, so daß es nun ein Konzert geworden ist, das ich im nächsten Winter spielen werde. Ich freue mich sehr darüber, denn es fehlte mir immer an einem größeren Bravourstück von ihm.“ Und einen Monat später, am 31. Juli 1845: ,,Robert hat sein Konzert beendigt, um es dem Notenschreiber zu übergeben. Ich freue mich wie ein König darauf, es mit Orchester zu spielen!“ Und kurze Zeit darauf notierte sie: „Mittwoch, den 9. September, fing ich Roberts Konzert zu studieren an. Welch ein Kontrast dieses und das (zu gleicher Zeit studierte) Klavierkonzert von Adolf Henselt! Wie reich an Erfindung, wie interessant vom Anfang bis zum Ende ist es, wie frisch und welch ein schönes zusammenhängendes Ganze! Ich empfinde ein wahrhaftiges Vergnügen beim Studieren!“ Man spürt, hier spricht und schreibt nicht die liebende Frau, hier urteilt die große Klavierkünstlerin, der das Herz weit wird, weil sie einem Genius dienen darf. Clara Wieck spielte das Konzert unmittelbar nachfolgend in Dresden und im Leipziger Gewandhaus. Mit wuchtigen Akkorden des Soloinstrumentes beginnt das Konzert, das schwär merische Hauptthema des ersten Satzes hebt mit den Holzbläsern an. Ein über zeugendes zweites Thema fehlt (wohl wegen des ursprünglichen Namens ,,Phantasie“ für den ersten Satz), an seine Stelle tritt ein unaufhörliches Fließen von improvisa torischen Elementen. „Das Klavier ist auf das feinste mit dem Orchester verwebt (Clara Sch.).“ Der zweite Satz ist gleichsam ein Intermezzo, ein Zwischenspiel. Das Klavier und das Orchester korrespondieren reizvoll, eine Violoncello-Kantilene unterstützt die Lyrik des Satzes. Das Kopfmotiv des Hauptthemas des ersten Satzes leitet zum Hauptthema des dritten Satzes über, der das Klavierkonzert schwungvoll und virtuos zu Ende führt. Eine musikalische Frucht von Johannes Brahms’ Detmolder Aufenthalt war die erste Serenade (er hat zwei geschrieben) in D-Dur op. 11. Max Kalbeck, der Brahms-Biograph, erzählte von dieser 1859 komponierten Serenade, daß Brahms bei dem Werk von Haus aus ein Oktett im mozartschen Sinne beabsichtigte. Das Opus aber wurde keine bescheidene Serenade (= Abendmusik), freilich auch keine Sin fonie — „wenn man wagt, nach Beethoven noch Sinfonien zu schreiben, so müßten sie ganz anders aussehen!“ meinte Brahms, der damals noch keine Sinfo nien geschrieben hatte. Aber liebevoll müßte das Stück gespielt werden, schrieb er an den hannöverschen Kapellmeister Bernhard Scholz, denn sonst wäre es „schade um das zärtliche Stück! Jedenfalls müßten Sie einiges dran wenden mit Proben. Ich würde es, falls Sie es überhaupt Ihren Bläsern zutrauen, gelegentlich vorprobieren, daß es den Musikern bekannt wird. Namentlich das Adagio kann man nicht eigentlich üben — der Anstrengung wegen. Beim Trio vom Menuett können Sie statt der Solo oboe eine Geige spielen lassen!“ Die Serenade besteht aus sechs Sätzen. Das idyllische Allegro molto wird vom naiv freudigen Horn des ersten Themas bestimmt. Das zweite Thema schlägt ernstere Töne an, am Schluß tritt ein zartschwebendes Flötensolo hinzu. Der zweite Satz, das Scherzo, lehnt sich deutlich an Haydn an. Der dritte Satz, das träumende Adagio, beginnt mit einer der schönsten Melodien, die Brahms überhaupt geschrieben hat. Tiefe Streichinstrumente und Fagotte leiten den eigenartig zögernden und dunkel wogenden Gesang ein. Der vierte Satz ist ein Doppelmenuett, köstlich in der Sexten melodie der liebenswürdig einhertänzelnden Klarinetten. Der fünfte Satz ist wieder ein Scherzo, dessen Hauptthema vier Takte aus dem Scherzo der 2. Beethoven- Sinfonie zitiert, während der Kontrapunkt hierzu an Haydns Sinfonie (D-Dur) erinnert — eine Verbeugung voll Ehrfurcht und Humor vor den großen Meistern,