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Die echt romantische Sehnsucht nach dem Volks liede, dem Schlichten, Innigen, Einfachen, Allver ständlichen, hat auch Gustav Mahler ergriffen, den Musiker, der im sinfonischen Schaffen seine eigentliche Aufgabe sah. Es berührt uns eigenartig, daß das Volkslied in ihm zum Gegenpol zur Span nung der großen sinfonischen Werke wurde. Die Sehnsucht nach den wahrhaften Wurzeln der Musik, die er, wie alle Romantiker-, im Volkslied sah, trieb ihn dazu, den Volkston zu suchen, Melodien dem Volkslied nachzuetnpfindeu. Weisen zu ersinnen, die dem Wesen des Volkes gemäß sein sollten. Soweit ging seine Sehnsucht, daß er hoffte, seine Lieder würden anonym wie das echte Volkslied werden, würden also vom Volke gesungen, ohne daß dieses nach dem Schöpfer der Melodien fragte. Wie schlicht und naiv sich jedoch Mahler gegeben hat, so ist doch bei jedem Liede etwas spezifisch Mahlerisches zu fin den. eine so unverwechselbar nur Mahler eigene Nöte, ein so eindeutig nur auf Mahler hinweisender Klang, daß diese Lieder zwar häufig im Konzertsaal er klingen und dort das große Können Mahlers ver künden, aber wegen dieser Eigenart eben nicht anouvm werden konnten. Das klangliche Gewand der „Lieder eines fahrenden Gesellen“, die Mahler selbst gedichtet hat, ist jenes der Spätromantik. Mahlers einzigartiges Können auf dem Gebiete der Instrumentation tut sich in jedem Takt kund. Spät romantische Stileigentümlichkeiten werden häufig eingesetzt; Lautmalereien, die der Vögel süßen Ge sang hören lassen, Harfen und Glocken, die das Klingen der Glockenblumen zauberhaft verwirk lichen, das Tremolo der Streicher, das das Wehen . des Windes erkennen läßt Dinge, die zwar selbst eine berauschende, romantisch-gefühlhafte Stim mung hervorrufen, aber selbst nicht mehr schlicht und einfach sind. Diese vier Lieder Gustav Mahlers (1884 korapqniert). werden also immer als bedeu tende Zeugnisse der verfeinerten aber auch über reifen Kunst der Spätromantik Geltung behalten. Mit Benjamin Britten hat England wieder An schluß an die große europäische Musiktradition ge wonnen. Britten ist vor allem durch zwei Opern („Peter Grimes“und „Lukretia“) bekannt geworden. Er hat in diesen Werken eine starke Begabung für die Darstellung dramatischer Spannungen und Kon flikte erwiesen, aber auch ein großes Geschick für die Schilderung naturhafter V orgänge. Diese ihn be sonders auszeichnenden Eigenfümlichkeiten zeigt er in deg neun Liedern („Les illuminations“) nach Ge dichten des Franzosen Arthur Rimbaud für Ttfnor und Streichorchester ebenfalls. Britten wagt in sei nem op. 18, die Begleitung der Singstimme aus schließlich den Streichern zu überlassen, eine Be Schränkung der Farbpalette des gesamtenOrchesters. die er aber durch die Ausnutzung der vielfältigen Mittel, die die Streichinstrumente zur Erzeugung des Tones zur Verfügung haben, wieder wettmacht. Selbstverständlich ist, daß seine Phantasie ihn dazu anregt. So verwendet er neben den verschiedenen Stricharten und dem Zupfen der Saiten das Tremolo, den Triller, das Glissando, das Flageolett und alle sonst noch denkbaren I^ünste eines modernen geige rischen Könnens und er erzielt damit dramatische, stimmungsmäßige und farbige Wirkungen, die das Fehlen der Bläser ganz vergessen lassen. Impressio nistische Einflüsse sind unverkennbar, und daß Britten Rimbaud vertont, ist nicht zufällig. Debussy, der große Anreger vor allem für die westlichen Völ ker, hat auch Brittens Kunst seinen Stempel auf gedrückt. Bewunderungswürdig ist, daß Britten auch musi kalisch die Eigenarten der Gedichte trifft und die Stimmungen Rimbauds zart aber sicher nachzuzeich nen vermag. Britten beschreitet in seinem Schaffen oft ungewöhnliche Wege, was die Hörer aber nich abschrecken sollte, sich seiner Kunst mit Aufmerk samkeit und Wohlwollen anzunehmen. Job. P. Thilman