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DRESDNER PHILHARMONIE Sonnabend, den 25. Oktober 1969, 20 Uhr Festsaal des Kulturpalastes Dresden 1.ZYKLUS-KONZ ERT BEETHOVEN - PROKOFJEW Dirigent: Lothar Seyfarth Solistin: Wanda Wilkomirska, VR Polen, Violine Sergej Prokofjew 1891-1953 Sinfonische Suite Nr. 1 aus dem Ballett „Aschen brödel" op. 107 Introduktion Tanz mit dem Schal Streit Die gute Fee und die Fee des Winters Mazurka Aschenbrödel geht zum Ball Aschenbrödels Walzer Mitternacht Erstaufführung Konzert für Violine und Orchester Nr. 1 op. 19 Andantino Vivacissimo Moderato Ludwig van Beethoven 1770-1827 PAUSE Sinfonie Nr. 1 C-Dur op. 21 Adagio molto - Allegro con brio Andante cantabile con moto Menuetto Adagio — Allegro molto e vivace Polens hervorragendste Geigenvirtuosin WANDA WILKOMIRSKA zählt zu den we nigen Vertreterinnen ihres Faches von internationalem Rang. Die in Warschau geborene Künst lerin entstammt einer Musikerfamilie. Durch den Vater erhielt sie im Alter von fünf Jahren die ersten Unterweisungen im Klavier- und Geigenspiel. Als Siebenjährige gab sie ihr erstes öffentliches Konzert. Etwa zur gleichen Zeit begonnen ihre Studien am Konservatorium von Lodz, die sie später am Warschauer Konservatorium als Schülerin von Irena Dubiska und anschließend an der Budapester Musikakademie bei Prof. Ede Zathureczky fortsetzte und mit Auszeichnung beendete. In Paris schließlich vervollkommnete sie ihr Können bei Henryk Szeryng. 1946 errang sie beim Internationalen Musikwettbewerb Genf den 2. Preis, und auch in den folgenden Jahren ging sie wiederholt aus internationalen Wettbewerben als Preisträ gerin hervor, so 1949 in Budapest, 1950 aus dem Bachwettbewerb in Leipzig und 1952 aus dem Wieniawski-Wettbewerb. Glänzende Erfolge in vielen Ländern Europas, Amerikas und Asiens festigten ihren Ruf im internationalen Musikleben ebenso wie ihre häufige Mitwirkung bei internationalen Festivals, z. B. in Edinburgh, Salzburg, Wien, beim Holland Festival, „Warschauer Herbst" und ihre zahl reichen Schallplatten-, Rundfunk- und Fernsehaufnahmen. Für ihre hervorragenden künstle rischen Verdienste erhielt Wanda Wilkomirska den Orden „Banner der Arbeit" und zweimal den Staatspreis der VR Polen. Mit der Dresdner Philharmonie musizierte sie bereits in den Jahren 1956, 1958 und 1961. ZUR EINFÜHRUNG „Die Zyklus-Konzerte der Spielzeit 1969/70 werden sicherlich Ihrem besonderen Interesse begegnen“, schrieb Prof. Dr. Karl Laux im Vorwort zum gedruckten diesjährigen Konzertplan. „Aus Anlaß des 200. Geburtstages Ludwig van Beet hovens im Jahre 1970 wird ein großangelegter Beethoven-Zyklus durchgeführt, der sich über zwei Spielzeiten erstreckt. In der vorliegenden Spielzeit 1969/70 erklingen neben Werken Beethovens solche von Sergej Prokofjew, für die folgende werden Werke von Bela Bartök als Ergänzung gewählt. Die Bedeutung Beethovens, den Franz Werfel einmal den .Genius der Revolution' genannt hat, und dem großen Umfang seines Werkes entspricht es, daß er in zwei Spielzeiten mit möglichst vielen Werken zu Wort kommt. Die Verbindung mit Sergej Prokof jew, dem sowjetischen Meister, ist sinnvoll und vielsagend. Ist doch bekannt, daß Prokofjew, als er beabsichtigte, das erste Streichquartett zu komponieren, die Partituren Beethovens studierte, um die Besonderheiten der Quartett-Komposi tion kennenzulernen. Und seine 6. Sinfonie — sie steht auf dem Programm des 8. Zyklus-Konzertes - wollte Prokofjew dem Andenken Beethovens widmen; di~ Sinfonie trägt die gleiche OpuszahlW wie die letzte Beethoven-Klaviersonaij die Prokofjew, der hervorragende Pianist, sehr liebte. Dabei handelte es sich ni“ um äußerliche Zahlensymbolik, sondern um den Wunsch des sowjetischen Mei sters, die Tradition des .späten Beethoven* auf seine Weise fortzusetzen." Haben wir sozusagen in den Zyklus-Konzerten der vor uns liegenden Saison „die ersten Kapitel einer klingenden Beethoven-Biographie vor uns“, wie es Karl Laux ausgedrückt hat, so wird gleichzeitig ein repräsentativer Querschnitt durch das reiche Schaffen Sergej Prokofjews, dieses Klassikers des 20. Jahrhunderts, gebo ten, werden die wichtigsten seiner sinfonischen und konzertanten Schöpfungen vorgestellt sowie auch einige Ausschnitte aus seinen Werken für die Musikbühne, aus denen es der Komponist liebte, Suiten für den Konzertsaal zusammenzustel len. Das Ballett „Aschenbrödel" („Cinderella") schrieb Sergej Prokofjew im Auftrag des Leningrader Kirow-Theaters in den Jahren 1941 bis 1944. Da der Krieg eine Aufführung des Werkes verhinderte, versuchte er, mit Klavierstücken (op. 95, 97, 102) auf die Musik des Ballettes hinzuweisen. Schließlich gestaltete sich die Uraufführung des Werkes, mit dem Prokofjew nach „Romeo und Julia“ wiederum eigenständig die Tradition der russischen Ballettkunst fort gesetzt und weiterentwickelt hatte, am 21. November 1945 am Moskauer Bol schoi-Theater zu einem eindeutigen Erfolg, obwohl der Autor selbst mit dieser ersten Interpretation nicht einverstanden war. Von Leningrad (April 1946) ging dann der eigentliche Welterfolg des Stückes aus, aus dessen musikalischem Material Prokofjew 1946 drei sinfonische Suiten schrieb: op. 107, 108 und 109, wobei er die zuvor entstandenen Klavierbearbeitungen der Ballettmusik verwen dete. „Diese Suiten sind keine einfachen mechanischen Zusammenstellungen der Nummern", äußerte er, „vieles wurde von mir neu ausgearbeitet und in sinfoni-. scher Form entwickelt". Die Orchestersuiten enthalten nahezu die gesam« Ballettmusik, sind jedoch leider in unseren Konzertsälen im Gegensatz zu der Suiten aus „Romeo und Julia" bisher noch nicht heimisch geworden. Die heute erklingende Suite Nr. 1 op. 107 umfaßt acht sinfonische Sätze, die dem 1. und 2. Akt des Märchenballettes entstammen und in einem gewissen dramaturgischen Zusammenhang stehen. Die Introduktion, die Einleitung, führt in die Atmosphäre des Stückes ein und bringt sogleich ein Leitmotiv, mit dem Aschenbrödel „nicht nur als Märchenfigur, sondern als lebendiger Mensch, der fühlt und uns zu ergreifen vermag", gezeichnet wird, wie es der Komponist selbst formulierte. „Nachdenklich, zart melancholisch im Charakter, erinnert es an die Demütigungen, die Aschenbrödel in ihrer bitteren Verwaistheit erleidet. Eine Häufung schöner tonaler Wendungen mit spröden chromatischen Klang wirkungen gibt diesem Thema Züge trauriger Müdigkeit". Wie anders dagegen ist die Situation im Hause der bösen Stiefmutter in den beiden nächsten Sätzen geschildert! Die zänkischen Stiefschwestern, die sich für den großen Ball im