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vorausgegangenen Gesellschaftsszene. Die zweite Variation (Grazioso) ist poly tonal und beschwört die Gestalt Lulus. Die dritte Variation (Funebre) ist atonal, die vierte (Affettuoso) streng zwölftönig. Damit erreicht die gefühlsmäßige Stei gerung der Variationsfolge ihren Höhepunkt. Erst zum Schluß erklingt das Thema als Leierkastenmelodie in seiner rhythmischen und harmonischen Originalgestalt. Den Höhepunkt und Abschluß von Suite wie Oper bildet das .Adagio des Todes' (Adagio; Sostenuto; Grave). Dieses Finale gipfelt in einem gewaltigen Akkord, der alle zwölf Töne gleichzeitig im Orchester erklingen läßt und die Ermordung Lulus durch den Lustmörder Jack dramatisch akzentuiert. Aus dem furchtbaren Todeskampf löst sich die ergreifende Klage der sterbenden Gräfin Geschwitz, Lulus einziger Freundin" (M. Gräter). Wilhelm Friedemann Bach, der älteste und wohl genialste Sohn Johann Sebastian Bachs, wirkte 13 Jahre (von 1733 bis 1746) in Dresden. Hier trat er als 23jähriger seine erste Stellung als Organist an der Silbermannorgel der Sophienkirche an, nach dem er von seinem Vater im Orgel- und Klavierspiel ausgebildet worden war und an der Leipziger Universität Rechtswissenschaft, Phi losophie und Mathematik studiert hatte. Schon vor der Annahme des Dresdner Amtes war Friedemann Bach öfter zusammen mit seinem Vater in dieser Stadt gewesen, u. a. zur Erstaufführung von Johann Adolf Hasses Oper „Cleofide am 13. September 1731 und zum Orgelkonzert des Vaters, das am folgenden Tage in der Sophienkirche stattfand. In der Dresdner Zeit stand er auch in Ver bindung mit dem Musikleben des Hofes, hatte Zutritt zur Hofmusik, pflegte mit berühmten Dresdner Meistern wie Hasse, Pisendel und S. L. Weiß Umgang und empfing namentlich durch die von Hasse geleitete Hofoper zahlreiche Anregun gen. Seine Pflichten an der Sophienkirche waren relativ gering, und es entstan den viele seiner besten Kompositionen, vor allem Instrumentalwerke: Sinfonien, Konzerte, Klavierwerke, in Dresden. Nur ein einziges festes Amt (als Organist der Liebfrauenkirche und „Director musices“ in Halle) hatte Friedemann Bach nach der 1746 niedergelegten Dresdner Stellung noch inne, ehe er als frei schaffender Künstler in den letzten 20 Jahren seines Lebens — nicht zu voller künstlerischer Reife gelangend — immer mehr in wirtschaftliche Not und innere Haltlosigkeit geriet. Das Unglück dieses „zwischen den Zeiten" stehenden Kom ponisten war es (neben seinem zweifellos schwierigen, zwiespältigen und zerris senen Charakter), daß die sozialen Voraussetzungen für ein ihm als Ideal vor schwebendes „freies Künstlertum" in der im Entstehen begriffenen bürgerlichen Gesellschaft seiner Zeit noch nicht gegeben waren. Auch Friedemann Bachs zum Teil hochbedeutende kompositorische Werke weisen in starkem Maße Merkmale einer Übergangsperiode, des Übergangs vom barocken Stil zum neuen Stil der sogenannten „Empfindsamkeit" auf; in vielen von ihnen spiegelt sich bereits deutlich der neue „Sturm-und-Drang"-Geist mit seiner Hochspannung der Ge fühle. Christian Friedrich Daniel Schubart schrieb 1806 über Wilhelm Friedemann Bach: „Er besitzt ein sehr feuriges Genie, eine schöpferische Einbildungskraft, Originalität und Neuheit der Gedanken, eine stürmische Geschwindigkeit, . . . herzerhebendes Pathos und himmlische Anmuth." Von den fünf Cembalokonzerten des Komponisten ist das heute erklingende Konzert für Cembalo und Streichorchester c-Moll in sei ner Echtheit nicht unumstritten geblieben, läßt aber jene von Schubart genann ten Stil-Charakteristika unbedingt erkennen. Gewiß verraten die prägnanten, scharf profilierten Hauptgedanken der schnellen Ecksätze die Schule Johann Sebastian Bachs, und der langsame Satz zeigt eine Ähnlichkeit mit dem d-Moll- Menuett aus dem „Notenbüchlein für Anna Magdalena Bach". Doch die ganze Anlage des Soloparts verweist auf den genialischen Friedemann Bach, dem das Werk von Willy Eickemeyer zugewiesen wurde. Zündenden Abschluß des heutigen Konzerts bildet die längst volkstümlich gewor dene Suite aus dem Singspiel „Hary Jänos" des ungarischen Meisters Zoltän Kodäly, die auch als Schallplattenproduktion der Dresdner Philharmonie unter Leitung Carl von Garagulys bei Eterna vorliegt. Kodälys erstes Singspiel ent stand 1925 26 und wurde am 16. Oktober 1926 in Budapest uraufgeführt, über den Helden dieses Bühnenwerkes, Hary Jänos, eine historische Figur aus dem Anfang des 19. Jahrhunderts, ein Veteran der napoleonischen Kriege, bericht® der ungarische Dichter Jänos Garay, der selbst ein episches Gedicht über dessen Heldentaten verfaßte, folgendes: „Häry ist bäuerlicher Herkunft, ein ausgedien ter Soldat. Tag für Tag sitzt er in der Schenke und erzählt von seinen unerhörten Heldentaten. Da er ein echter Bauer ist, sind die grotesken Ausgeburten seiner Phantasie eine wunderbare Mischung von Realismus und Naivität, Komik und Pathos. Und doch ist Häry nicht einfach ein ungarischer Münchhausen. Dem An schein nach ist er ein Maulheld und Aufschneider, ist er dem Wesen nach der Typ des begeisterten Träumers, ein geborener Schwärmer und Dichter. Seine Er zählungen sind nicht wahr, aber darauf kommt es ja auch nicht an. Es sind Früchte seiner lebhaften Phantasie, die für ihn selbst und für andere eine schöne Traumwelt schafft." Kodälys Musik zum Singspiel „Häry Jänos" ist bald volksliedhaft, bald illustrie rend, immer aber von erstaunlicher Mannigfaltigkeit: lyrisch, humorvoll, spöttisch. Die Häry-Jänos-Suite vereinigt in sechs Sätzen charakteristische Stücke aus dem Bühnenwerk, über die der ungarische Musikwissenschaftler Zoltän Gär- dony im einzelnen schrieb: „Das Vorspiel ist betitelt: .Das Märchen beginnt'. Häry fängt an, in der Dorfschenke von seinen erträumten abenteuerlichen Hel dentaten zu erzählen. Wie Härys Hirngespinste, so beleben sich allmählich die Stimmeneinsätze des Fugato, bis dann im Moment der höchsten Spannung das Traumbild wie Rauch verschwindet. Das Glockenspielrondo des zweiten Satzes kündet an, daß der Schauplatz der Erzählungen die Wiener Hofburg ist. CM einzige Wirklichkeit ist Härys Liebe zu seiner O'rzse. Aus dem Duett mit der Ge^ liebten besteht der dritte Satz der Suite. Thematisch ist ein altungarisches Volks lied verwendet. Der vierte Satz schildert mit grotesken Mitteln die Schlacht und die Niederlage Napoleons, wie sie sich Häry vorstellt. Das Intermezzo (der fünfte Satz, auch im Bühnenwerk reine Zwischenaktmusik) ist ein stolzer ungarischer Werbungstanz (Verbunkos) mit einem gesanglichen Thema. Die steife Pracht des sechsten Satzes stellt den Einzug des kaiserlichen Hofes dar, dem wir hier mit den Träumeraugen eines Häry zusehen. Härys Gestalt hat nur oberflächliche Ähnlichkeit mit Don Quijote, Münchhausen oder anderen populären Figuren. In ihm verkörpern sich die innersten Regungen der ungarischen Volksseele, die von Heldentaten und Freiheit träumt, auch in der bitteren Zeit der Unterdrückung. Dr. Dieter Härtwig »KilHamoooi 8. PHILHARMONISCHES KONZERT 1968/69