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DRESDNER PHILHARMONIE Donnerstag, den 17. September 1970, 20 Uhr Festsaal des Kulturpalastes Dresden 2. ZYKLUS-KONZERT BEETHOVEN-BARTOK Dirigent: Lothar Seyfarth Solist: Zoltdn Kocsis, VR Ungarn, Klavier Bela Bartök 1881-1945 Ungarische Bauernlieder Ballade (Tema con variazioni) Ungarische Bauerntänze Erstaufführung Konzert für Klavier und Orchester Nr. 2 Allegro Adagio — Presto — Adagio Allegro molto PAUSE Ludwig van Beethoven 1770-1827 Sinfonie Nr. 8 F-Dur op. 93 Allegro vivace e con brio Allegretto scherzando Tempo di Menuetto Allegro vivace ZOLTAN KOCSIS, Jahrgang 1951, gegenwärtig noch Student an der Budapester Musikakademie, gehört zu den hoffnungsvollsten ungarischen Nachwuchs pianisten. Beim diesjährigen Beethoven-Wettbewerb des ungarischen Rundfunks wurde er Sieger. ZUR EINFÜHRUNG Am 26. September 1970 jährt sich der Todestag des ungarischen Meisters Bela Bartök zum 25. Male und am 25. März 1971 sein Geburtstag zum 90. Male — dies ist der äußere Anlaß dafür, daß die Dresdner Philharmonie die Fortsetzung ihres großangelegten Beethoven-Zyklus, der aus Anlaß des 200. Geburtstages des Wiener Klassikers durchgeführt wird, in der Spielzeit 1970 71 mit einem Überblick über die wesentlichsten Orchesterschöpfungen Bartöks koppelt. Die Werke dieses Komponisten gehören zu den stärksten musikalischen Leistungen unseres Jahr hunderts. Und keineswegs alle sind bei uns bekannt. 1881 in Nagyszentmiklös geboren, studierte Bartök an der Budapester Musik akademie und wurde dort im Jahre 1906 zum Professor für Klavierspiel ernannt. 1940 emigrierte er als leidenschaftlicher Gegner des Faschismus über Jugoslawien, Italien, die Schweiz in die Vereinigten Staaten von Amerika. Fünf Jahre waren ihm in den USA, namentlich in New York, noch zu leben und schaffen vergönnt, ehe ihn am 26. September 1945 der Tod von seinem heimtückischen Leukämie-Lei den erlöste. Die amerikanischen Jahre hatten dem Künstler mehr ideellen als materiellen Gewinn gebracht. Doch erst nach seinem Tode errang sein schöpferi sches Lebenswerk wahrhaftige Weltgeltung. In seinem Heimatlande kam es zur Gründung der Bela-Bartök-Union, der über 60 000 Musikfreunde angehören. Bartöks Weg als Komponist begann zunächst in den Bahnen der Wiener Klassi ker; Brahms, Liszt und Richard Strauss traten danach in seinen Gesichtskreis. Da man damals in seinem Heimatlande auf allen Gebieten die Merkmale des typisch Ungarischen erforschte, ereignete es sich von ungefähr, daß auch Bartök begann, sich mit dem echten ungarischen Volkslied zu beschäftigen, weil er erkannt hatte, daß die bis dahin unter der Bezeichnung Volkslieder gepflegten ungarischen Weisen mehr oder weniger triviale volkstümliche Kunstlieder waren. Gestützt auf bisherige Untersuchungen, allein oder zusammen mit seinem Landsmann und Freund Zoltdn Koddly, begab er sich auf Forschungsreisen durch Ungarn, Ru mänien, slawische Randgebiete und sammelte — oft unter größten Schwierigkei ten - alles echte Volksmusikgut, das ihm begegnete, namentlich „die bis dahin schlechtweg unbekannte ungarische Bauernmusik". Bartöks Aufzeichnungen tau sender sikulischer, transsylvanischer, slowakischer, rumänischer, jugoslawischer und anderer Volksmelodien und Tänze, die Anlaß umfassender Volksliededitionen wurden, sind mit höchster Exaktheit eines Gelehrten angefertigt, der zum Folklori sten prädestiniert war durch das unerhörte Format seiner musikalischen Bega ¬ bung und Kenntnisse, sein Sprachwissen (zum Beispiel slowakisch, englisch, fran- zösich, deutsch, spanisch, russisch, arabisch, türkisch) und durch die echte Leiden schaft des Sammlers. Wissenschaft und Kunst, Präzision des Musikforschers und künstlerische Intuition — bei Bartök gab es keinen Widerspruch auf diesen Ge bieten. Der Künstler empfing Anregungn durch den Folkloristen, der Volkslied sammler wurde unterstützt durch den musikalischen Verstand des Künstlers. Die Begegnung und Beschäftigung mit der Folklore wurde für die Herausbildung von Bartöks Personalstil entscheidend. Nach spätromantischen und impressionisti schen Anfängen kam es zu direkter oder indirekter Aufnahme folkloristischer Mo tive. Die eigenartige, von westeuropäischen Einflüssen kaum berührte Rhythmik und Harmonik der uralten Volksweisen entdeckte Bartök „die Möglichkeit einer vollständigen Emanzipation von der Alleinherrschaft des bisherigen Dur- und Mollsystems". Der Komponist begann, eine nationalungarische Musik zu schaffen, unter dem Aspekt, „die Kunstmusik mit Elementen einer frischen, durch das Schaf fen der letzten Jahrhunderte nicht beeinflußten Bauernmusik zu beleben". Der Verschmelzungsprozeß gelang Bartök in einer ganz persönlichen Synthese. Nach seinen eigenen Worten machte er die ungarische Bauernmusik zu seiner musika lischen Muttersprache. In drei Stiletappen vollendete sich sein Werk, über eine gesunde antiromantische Opposition schließlich allmählich hineinwachsend in die ernsten, gereiften Bezirke des Geistigen, ohne dabei das Erbe der elementar vitalen ungarischen Rhythmik zu vernachlässigen. Gleichzeitig blieben auch der Kontrapunkt im Geiste Johann Sebastian Bachs und die kontrastreiche Durchfüh rungstechnik der Wiener Klassiker Grundlagen für die urwüchsige, vergeistigte Tonsprache Bartöks, der zahlenmäßig nicht allzu viele, jedoch höchst bedeutende Schöpfungen hinterlassen hat. Bartök hat wiederholt Klavierwerke orchestriert. Auch die heute zur Dresdner Erst aufführung gelangenden Ungarischen Bauernlieder stellen Orche sterbearbeitungen einzelner Stücke aus dem 1914 bis 1917 geschaffenen Klavierzyklus „15 Ungarische Bauernlieder" dar, aus dem der Komponist 1933 die Nr. 6 (Ballade — Tema con variazioni) sowie die Nummern 7-12 und 14—15 (Alte Tanzweisen) auswählte und sie zu dem zweiteiligen Orchesterwerk zusammen fügte, das am 18. März 1934 unter Gyula Baranyai in Szombathely uraufgeführt wurde. Diese kleine Arbeit Bartöks zeigt, auf welch anregende Weise er das Problem Volksmusik-Kunstmusik zu lösen verstand. Seine Fähigkeit, Gesangs melodien auf Instrumente zu übertragen und sie durch neuartige Begleitstimmen oder Begleitakkorde auszudeuten und zu vertiefen, ist nahezu unbegrenzt. Für die Besetzung Klavier und Orchester komponierte Bela Bartök in allen Schaf fensperioden: 1904 entstand als op. 1 die Rhapsodie für Klavier und Orchester, 1926 — in der mittleren Schaffensphase - das 1. Klavierkonzert, dem 1931 das auf unserem heutigen Programm stehende zweite folgte. 1945 schließlich schrieb er als eine seiner letzten und ergreifendsten Schöpfungen das 3. Klavierkonzert. Bartöks 2. Klavierkonzert wahrt die klassische Dreisätzigkeit, wenn auch der zweite Satz ein von Adagio-Teilen umschlossenes Scherzo ist (Adagio - Presto - Adagio) und somit eigentlich beide Innensätze des sinfonischen Zyklus in sich