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DRESDNER PHILHARMONIE DIE WORTE DES CHOR-FINALES DER NEUNTEN SINFONIE Sonntag, den 6. September 1970, 20 Uhr Festsaal des Kulturpalastes Dresden O Freunde, nicht diese Töne, sondern laßt uns angenehmere anstimmen und freudenvollere. 1. KONZERT IM ANRECHT C Dirigent: Kurt Masur Solisten: Anna Tomowa-Sintow, VR Bulgarien/Leipzig Sopran Ingeborg Springer, Berlin, Alt Günter Neumann, Berlin, Tenor Siegfried Vogel, Berlin, Baß Chor: Philharmonischer Chor Dresden Einstudierung Wolfgang Berger Ludwig van Beethoven Sinfonie Nr. 9 d-Moll 1770-1827 mit Schiußchor über Schillers Ode „An die Freude" für Orchester, Solostimmen und Chor op. 125 Allegro ma non troppo, un poco maestoso Molto vivace Adagio molto e cantabile Finale (Presto-prestissimo) Freude, schöner Götterfunken, Tochter aus Elysium, wir betreten feuertrunken, Himmlische, dein Heiligtum. Freude trinken alle Wesen an den Brüsten der Natur, alle Guten, alle Bösen folgen ihrer Rosenspur! Deine Zauber binden wieder, was die Mode streng geteilt; alle Menschen werden Brüder wo dein sanfter Flügel weilt. Küsse gab sie uns und Reben, einen Freund geprüft im Tod! Wollust ward dem Wurm gegeben, und der Cherub steht vor Gott! Wem der große Wurf gelungen, eines Freundes Freund zu sein, wer ein holdes Weib errungen, mische seinen Jubel ein. Froh, wie seine Sonnen fliegen durch des Himmels prächt'gen Plan, laufet, Brüder, eure Bahn, freudig, wie ein Held zum Siegen. Ja, wer auch nur eine Seele sein nennt auf dem Erdenrund! Und wer's nie gekonnt, der stehle weinend sich aus diesem Bund. Seid umschlungen, Millionen! Diesen Kuß der ganzen Welt! Brüder überm Sternenzelt muß ein lieber Vater wohnen! Ihr stürzt nieder, Millionen? Ahnest du den Schöpfer, Welt? Such ihn überm Sternenzelt! Uber Sternen muß er wohnen! Freude, schöner Götterfunken! ZUR EINFÜHRUNG „Offenbar ist das Bestreben der besten Dichter und ästhetischen Schriftsteller aller Nationen schon seit geraumer Zeit auf das allgemein Menschliche gerichtet . . . Überall hört und liest man von dem Vorschreiten des Menschengeschlechts, von den weiteren Aussichten der Welt- und Menschenverhältnisse. Wie es auch im ganzen damit beschaffen sein mag, welches zu untersuchen und näher zu be stimmen nicht meines Amtes ist, will ich doch von meiner Seite meine Freunde aufmerksam machen, daß ich überzeugt sei, es bilde sich eine allgemeine Welt literatur, worin uns Deutschen eine ehrenvolle Rolle Vorbehalten ist." Diese Worte schrieb Johann Wolfgang von Goethe 1827, im Sterbejahr Ludwig van Beethovens. Es erübrigt sich zweifellos nachzuweisen, wie sinnfällig gerade der Weimarer Klassiker diese „ehrenvolle Rolle" erfüllt hat. Aber „Weltliteratur" ist nicht nur literarisch zu begreifen, sondern auch im musikalisch-musikhistorischen Sinne. Beethoven, der große Wiener Klassiker, schrieb kurz vor der Vollendung der neunten Sinfonie, im April 1823: „. . . so hoffe ich endlich zu schreiben, was mir und der Kunst das Höchste ist — Faust." In der Tat: Kaum ist das eindeutiger zu charakterisieren, was man den deutschen Beitrag zur Weltliteratur schlechthin nennen möchte, als mit dem Hinweis auf Goethes „Faust" und Beethovens „Neunte". Zwei Ebenbürtige schufen im Be streben der „Besten" weltumspannende Botschaften, die einzigartigsten Doku mente wohl aus der deutschen klassischen Kulturperiode. Hat Goethe in seinem „Faust", der ihn fast 60 Jahre beschäftigt hat, seine und seiner ganzen Epoche Weltanschauung niedergelegt, so ist auch Beethovens „Neunte" Ausdruck seiner „Weisheit und Philosophie", seine weltanschaulich-künstlerische Offenbarung. Wie Goethe hat Beethoven jahrelang um die endgültige Gestaltung seines größten Werkes gerungen. Bereits der 23jährige Komponist trug sich 1793 mit dem Plan, Schillers Ode „An die Freude" zu komponieren, ohne daß er dabei an das Chorfinale einer Sinfonie gedacht hätte. In einem Skizzenbuch aus dem Jahre 1798 findet sich ein Entwurf für die Textworte „. . . muß ein lieber Vater wohnen". Etwas später vertonte Beethoven das Goethe-Gedicht „Kleine Blumen, kleine Blätter" auf eine Melodie, die im wesentlichen schon das „Freudenthema" der neunten Sinfonie vorwegnahm. 1812 bestand die Absicht, eine Festouvertüre mit Chorgesang über Schillers Freuden-Ode zu schaffen. Die ersten Skizzen zur neun ten Sinfonie stammen aus dem Jahre 1817. Aus dem Jahre darauf informiert eine Tagebucheintragung über den Plan einer Sinfonie mit chorischem Finale. Erst 1822 begann die berühmte Melodie auf die Textworte „Freude, schöner Götter funken, Tochter aus Elysium" endgültige Gestalt anzunehmen. Langsam reifte nun auch die Chor-Lösung des Finales, das — im Februar 1824 vollendet - schließlich den monumentalen Bau der Sinfonie krönte, einer Sinfonie „auf die Art" wie schon Beethovens Klavierfantasie mit Chor, „jedoch weit größer gehal ten als selbe". Beethovens „Ringen" um die neunte Sinfonie erklärt auch die sinfonielose, elfjährige Pause, die dem Abschluß der achten Sinfonie im Herbst 1812 folgte. Doch zurück zur Werkgeschichte: im Grunde nämlich vereinigte die „Neunte“ auch noch den Plan einer zehnten Sinfonie, von der bereits Skizzen vorlagen. Das Finale hatte sich Beethoven ursprünglich rein instrumental vorge stellt. Das dafür vorgesehene Thema findet sich im a-Moll-Streichquartett op. 132, auch an eine Fuge über das variierte Thema vom zweiten Satz war gedacht. Man