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ZUR EINFÜHRUNG Ernst Helmuth Flammer wurde 1949 in Heilbronn geboren. Nach dem Abitur nahm er zunächst in den Jahren 1969 bis 1972 ein Studium der Mathematik und Physik auf. Von 1973 bis 1979 studierte er sodann Kontrapunkt und Musiktheorie bei Peter Förtig und gleich zeitig - von 1972 bis 1980 - Musikwissenschaft bei Hans-Heinrich Eggebrecht in Freiburg. Mit einer Arbeit über Hans Werner Henze und Luigi Nono promovierte er zum Dr. phil. Da neben erhielt er — seit 1976 — kompositorische Unterweisung durch Klaus Huber, Brian Fer- neyhough und Paul-Heinz Dittrich. Seit 1977 publiziert er in mehreren Fachzeit schriften zu Themen der Neuen Musik und ästhetischen Fragestellungen. Seit 1980 lebt er als freischaffender Komponist in Freiburg i. Br. Lehraufträge banden ihn zeitweilig an die Staatliche Hochschule für Musik Trossingen, an die Universität Freiburg, an die University of Newcastle. Eine umfangreiche Lehrtätigkeit übt er regelmäßig bei den Darmstädter Fe rienkursen und neuerdings am Mozarteum Salzburg aus. 1985 bis 1987 hatte er einen Be ratervertrag mit der Stadt Mönchengladbach als Künstlerischer Leiter des dortigen Festivals „Ensemblia". Seit 1985 betreut er das von ihm mit aufgebaute „ensemble recherche freiburg", das sich vorwiegend der Interpretation Neuer Musik widmet. Ernst Helmuth Flammer erhielt zahlreiche Kompositionsaufträge im In- und Ausland. Sei ne Werke, darunter das großangelegte Ora torium „Der Turmbau zu Babel", sinfonische und konzertante Arbeiten, Kompositionen für Orgel und andere Soloinstrumente, für Kam merensembles, drei Streichquartette, Chor stücke, wurden auf vielen Festivals aufgeführt und von Rundfunkanstalten der BRD und des Auslandes produziert. Auch mehrere Preise wurden dem Komponisten für sein Schaffen zuteil, darunter der Carl-Maria-von-Weber- Preis der Stadt Dresden 1979 (für sein 1. Streichquartett), der Kompositionspreis der Stadt Stuttgart (1982), der Reinhold-Schneider- Preis der Stadt Freiburg (1984), der Interna tionale Goffredo-Petrassi-Preis Parma (1987). über die 1987/88 entstandene Komposition für großes Orchester „Dem Rad in die Speichen fallen“ - ein Auftragswerk der Stuttgarter Philharmoniker und von diesen unter Wolf-Dieter Hauschild uraufgeführt — äußerte Ernst Helmuth Flammer: „,Dem Rad in die Speichen fallen“ ist ein Ausspruch des Theologen Dietrich Bonhoeffer während seiner letzten Lebenszeit im Konzen trationslager in den Jahren 1943/45. Ich habe ihn als Motto über mein Orchesterwerk ge stellt, weil gerade djese Thematik, die hinter diesem Spruch steht, dem Sujet, welches die ser Musik zugrunde liegt, entspricht. Vorder gründig reflektiert das Stück die Situation ethnischer, religiöser und rassischer Minder heiten im Dritten Reich, in der Zeit des .Her renmenschentums'. Es reflektiert die Ausweg losigkeit der intellektuell und kulturell Unan gepaßten, weil sie ihre geistliche und sittliche Freiheit mit körperlicher Gefangenschaft und Mißhandlung bezahlen, oder jene der Bekerv nenden Kirche, die, um frei in der Ausübi^B des Glaubens zu sein, all jene Schmach Kauf nahmen, und endlich jene, die leiden und sterben mußten, weil sie einfach einer Volks gruppe angehörten, deren Vernichtung plan voll betrieben wurde. Wenn Bonhoeffer, ein Mann, der tief von der Kraft der Worte über zeugt war und Gewaltanwendung verab scheute, mit diesem Aufruf zur Solidarität aller Unterdrückten gleich welcher Art und zur ak tiven Opposition, mehr noch, zum aktiven Wi derstand aufrief, war einerseits seine Ver zweiflung der entscheidende Grund, seine Ein sicht in die Ausweglosigkeit, andererseits er forderte dies die Situation als einzige kleine Chance zum Überleben überhaupt. Ausweglosigkeit bezieht die Thematik der Apokalypse mit ein, der Ausspruch aus dem Munde eines Mannes, der tief vom Leben nach dem Tode überzeugt war, beschreibt diese Si tuation um so deutlicher. Ich interpretiere die ses Thema verallgemeinernd, nicht lediglich auf das Dritte Reich bezogen, denn sie ist mehr denn je aktuell, konkret an vielen Orten der Welt, wo Unfreiheit herrscht, allgemein in un serer Weltsituation, in der wir alle mehr als an allen geschichtlichen Orten zuvor in uns^^ rer Existenz, als Species Mensch zu überleb^B bedroht sind. Im Stück hat das Rad eine symbolische Be deutung. Es steht einerseits für die Rhythmik der motorischen Gesten, andererseits für die Klang- und Geräuschwellen, die gleichsam kreisend sich durch den Raum bewegen. Die Instrumentation bezieht so den Raum mit ein. Eine hervorgehobene Rolle, nicht nur durch die Sitzordnung bedingt, spielt hier das Schlag zeug. Die gewählten Instrumente, die .mar schieren' — zu oft wurde und wird marschiert ohne Reflexion über den Grund des Marschie rens — beschreiben, drücken durchaus Absich- ERNST HELMUTH FLAMMER ten aus. Daß das Marschieren, zu Anfang ex poniert und später das Kreisen im Raum (Rad!) refrainartig wiederkehren, daß das Kreisen seine Geschwindigkeit ständig heraufsetzt, ob schon die Zeit stehenzubleiben scheint, hat et was mit der Beschleunigung der Entwicklung, die solchen Geschehnissen im Weltlauf ge wöhnlich zu eigen ist, zu tun. Mit Bonhoeffers Schicksal am Schluß seines Lebens vergleich bar, treiben sie in die Hoffnungslosigkeit, die ihre Übersteigerung im Veitstanz und in der auf diesen folgenden Ruhesituation findet. Jene Ruhe am Schluß ist nicht die Ruhe des Friedens, sondern jene des Ersterbens und der Erstarrung. Man hörte in den Protokollen und Dokumenten über Auschwitz die Stimmen aus den Massengräbern. Jenes refrainartige Schreiten wird durch musikalische Ausbruch versuche aus der Situation des Gleichgeschal tetseins durchbrochen, was die zweite wesent- Schicht des Stückes ist. Solche Ausbruchs- ^ffsuche klingen kämpferisch ,Dem Rad in die Speichen fallen', das Rad, welches sich unauf haltsam — wohin? — dreht, gleichsam anzu halten —, klingen aber auch als Versuch des Musikers, seine Identität und Individuation in der Individuation der Einzelstimmen im Kollek tiv des Orchesters wiederzufinden, gleichsam als Symbol für die Einmaligkeit jeglicher menschlichen Kreatur. Doch es gelingt letztlich nicht, das Rad wirklich anzuhalten, es fängt sich immer wieder an zu drehen und jedesmal schneller. Wozu sollte es auch gelingen in die ser Situation, die wenig zu Hoffnung Anlaß gibt, mehr zu Verzweiflung." An ton Bruckner hat ein verhältnismä ßig wenig umfangreiches kompositorisches Erbe hinterlassen, neun Sinfonien, ein Te Deum, drei Messen, den 150. Psalm, einige Chöre und ein Streichquartett. Doch dieses relativ schmale CEuvre gehört fraglos zu den unvergänglichen Zeugnissen der Musikkultur. Bruckner, Sohn eines Dorfschullehrers, fand als Komponist zu Lebzeiten Anerkennung nur bei einem kleinen Freundeskreis. Höchste Anerkennung zollte er Richard Wagner, der ihn einen Nachfolger Beethovens nannte. Auch Komponisten wie Hugo Wolf und Carl Loewe, die berühmten Di rigenten Nikisch, Ochs und Levi standen Bruck ners Musik aufgeschlossen gegenüber. Bruck ners schärfster Gegner aber war der namhafte Wiener Kritiker Dr. Hanslick, ein Vorkämpfer von Brahms. Die Musikgeschichte nennt Anton Bruckner mit Recht einen Sinfoniker, „nicht weil er im we sentlichen Sinfonien geschrieben hat oder weil er mit der Zahl neun in Beethovens Nachbar schaft steht, sondern weil er in dieser Form sein Gültiges so ausgesagt hat, daß wir es aus der Entwicklungsgeschichte der Sinfonie nicht mehr wegdenken können. Bruckner hatte unablässig gelernt, geübt und ausgeübt, das letztere nicht wie ein Instrumentalsolist oder Dirigent auf breiter Basis, sondern auf der Or gelbank. Er hatte musikalisches Kapital in klei ner Münze angehäuft, aber nicht, um es wie ein Geizhals zu horten, sondern um Zinsen daraus zu schlagen zu gegebener Zeit. Er war, als er die Reihe seiner Sinfonien begann, we der ein Mann der kühlen Berechnung, der sich