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aus auch ohne Programme als reine Musik überzeugen. Drastisch ausgedrückt besagt das: „Überwindung der Programmusik durch den radikalsten aller Programmusiker!" Es gibt keinen entscheidenderen Beweis für die überragende Kraft des Straussschen Genius als die Tatsache, daß die musikalische Substanz stark genug ist, ohne Stützen, aus sich heraus zu bestehen, und sei es auch „nur" als schö ner Schein, als bunte, schillernde Illusion. Daß sich berühmte Männer gern ihres priva ten Daseins, ihres Familienglücks erfreuen und es in ihre Werkstatt einbeziehen, dürfte nichts Neues sein; man denke nur an die Selbst porträts der Maler, die Lebensdarstellungen der Dichter. Immerhin hat die Art und Weise, mit der Strauss in der Sinfonia dorne- stica o p. 5 3 sein Familienglück in der Charlottenburger Wohnung mit Frau Pauline und Sohn Franz mit stark besetztem sinfoni schen Orchester an die „große Glocke" hängt, etwas Entwaffnendes. Das Tableau, das Strauss hier entwirft, geht weit über die mi- nutinösen Familienbilder der Romantiker hin aus. Strauss liebt es, tief ins Leben hineinzu greifen, Intimes auszuplaudern, dabei den Hörer keinen Moment am Glück des familiä ren Genrebildes zweifeln lassend. Wenn es überhaupt einen ernsthaften ästhetischen Ein wand gibt, dann den: zwischen der Schlicht heit des Programms und der Monumentalität der Ausführung besteht ein Mißverhältnis. Aus dem zarten Sproß des Künstler-Elternpaa res ist das sinfonische „Riesenbaby" in der volltönenden Darstellung eines über hundert köpfigen Orchesters (mit vierfachem Holz, vier Saxophonen, acht Hörnern) geworden. Die häusliche Idylle, bei der „Küche, Wohnzim mer, Schlafgemach all und jedem geöffnet sind" (Rolland), nimmt die Ausmaße eines komfortablen bürgerlichen Welttheaters an. Andererseits ist die Tendenz zum Einfach- Volkstümlichen in der Wahl der Themen, in der heiter-beschaulichen Grundstimmung un überhörbar: in ununterbrochener Musizier freude fließt die ausgedehnte Idylle dahin. Auch diesmal hat sich Strauss dafür entschie den, allzu offenherzige Programmhinweise nicht in die gedruckte Partitur zu übernehmen. (Nur das spaßige „Ganz der Papa" und „Ganz die Mama" der Tanten und Onkel ist stehen geblieben.) Was früher mit den Worten „Der Mann", „Die Frau" und .„Das Kind" genau fixiert war, trägt nun die neutrale Kennzeich nung Erstes, Zweites und Drittes Thema. Dem entsprechen die drei Teile und das Finale des sinfonischen Mikrokosmos. Im ersten Teil wer den die Themen aufgestellt — das Thema des Kindes „von Haydnscher Einfachheit" hat Strauss der selten verwendeten Oboe d’amore anvertraut. Man gerät sogleich mitten in eine Familienszene: die Verwandtschaft ist zu Be such. Im zweiten Teil (Scherzo: Elternglück, Kind liche Spiele, Wiegenlied) sind die Eltern mit ihrem Kind allein. Es wird gespielt und her umgetollt; endlich geht der Kleine zu Bett. Zwei Klarinetten beginnen das Wiegenlied, zu dem das Kind-Thema kontrapunktiert wird. Sieben Glockenschläge tropfen silbern in träumerische Dämmerstimmung. Im ers^B Abschnitt „Schaffen und Schauen" des dritten Teiles erklingen Themengruppen des Mannes; Themen der Frau gesellen sich hinzu. Eine Lie besszene erblüht in wohliger Klangsinnlich keit. Auch das Thema des Kindes tönt hinein. Die „Träume und Sorgen" beziehen sich auf das Kind: die Nacht sinkt hernieder. Finale: die Glocke schlägt sieben Uhr morgens. Der Vater sagt etwas Unwirsches; die Frau ent gegnet ihm ebenso — der Streit ist im Gange, der in einer eiligen Doppelfuge durch das reiche Instrumentarium abschnurrt. Hier und da wirft das Kind einen Kontrapunkt dazwi schen. Schließlich lenkt der Vater ein; die Frau ist rasch versöhnt. In einer Stretta von jauch zendem Übermut, in der sich die Hauptmotive noch einmal gesteigert und vergrößert ausle ben dürfen, wird das turbulente Familienge schehen zum „fröhlichen Beschluß" getrieben. Ungewöhnlich wie die Programmatik des Wer kes sind auch die äußeren Umstände der Ur aufführung. Strauss, der sich im Februar 1904 gemeinsam mit seiner Frau, der Liedersänge rin, auf eine große Konzertreise nach Nord amerika begab, rückte die Sinfonia domestica in den Mittelpunkt eines Strauss-Fe:^^ in New York. Aber noch mehr Aufsehen die eigentliche Uraufführung erregten zwei Reprisen im riesigen Warenhaus Wannema ker der Metropole; den ersten Stock hatte man eigens zum Konzertsaal hergerichtet. Als dem selbst dirigierenden Komponisten von der deutschen Presse Vorhaltungen gemacht wur den, blieb er die Antwort nicht schuldig: „Wahre Kunst adelt jeden Saal, und anstän diger Gelderwerb für Frau und Kind schändet nicht einmal einen Künstler." Auch dies ver gnügliche Nachspiel gehört zur Sinfonia do mestica.