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ZUR EINFÜHRUNG Rudolf Wagner-Regeny, am 28. August '1903 in Szäsz-Regen (Siebenbürgen) geboren, verbrachte Kindheit und Schulzeit noch in der verfallenden österreichisch-unga rischen Monarchie. Kurz nach dem ersten Welt krieg begann er sein Studium am Leipziger Konservatorium, siedelte aber bald nach Ber lin über, um hier nach Studien bei R. Krasselt, F. E. Koch, E. N. von Reznicek, F. Schreker und S. Ochs 1923 seine musikalische Ausbildung abzuschließen. In den Jahren 1927 bis 1930 reiste er mit Rudolf von Laban und seiner Kammertanzbühne als dessen Kapellmeister und Komponist durch Deutschland, die Schweiz und Holland. 1929 traf Wagner-Regeny in Es sen mit dem Bühnenbildner, Maler und Schrift steller Caspar Neher zusammen, der ihm in der Folgezeit, beginnend mit dem „Günstling", die Textbücher für seine bekanntesten Opern lie ferte, die den Namen des Komponisten in die Welt trugen. Der entscheidende Durchbruch gelang 1935 mit der überaus erfolgreichen Ur aufführung des „Günstling" an der Staatsoper Dresden unter Karl Böhm, die schlagartig Wagner-Regeny in die vorderste Reihe der zeitgenössischen deutschen Opernkomponisten rücken ließ. 1939 folgten — unter Herbert von Karajan — die „Bürger von Calais" in Berlin, sodann 1941 an der Wiener Staatsoper „Jo hanna Balk" unter Leopold Ludwig. Dann, 1943, wurde der Künstler zum Militärdienst ein berufen, der schwere gesundheitliche Schädi gung brachte. 1947 wurde Wagner-Regeny zum Direktor der neugegründeten Musikhoch schule Rostock sowie zugleich zum Professor und Leiter der Meisterklasse für Komposition ernannt. 1950 erfolgte seine Berufung als Pro fessor für Komposition an die ebenfalls neu gegründete Deutsche Hochschule für Musik in Berlin, wo er bis 1968 wirkte. Gleichzeitig lei tete er eine Meisterklasse für Komposition an der Deutschen Akademie der Künste zu Berlin. Mit dem szenischen Oratorium „Prometheus“ (nach Aischylos) wurde 1959 das neuerbaute Haus des Staatstheaters Kassel eingeweiht. 1961 gelangte während der Salzburger Fest spiele die Hofmannsthal-Oper „Das Berg werk zu Falun" zur Uraufführung. Der Kompo nist verstarb am 18. September 1969 in Berlin. Wagner-Regeny, Nationalpreisträger, Ordent liches Mitglied der Akademie der Künste der DDR zu Berlin wie auch Mitglied der Akade mie der Künste in Westberlin und der Bayri schen Akademie der Schönen Künste zu Mün chen, eine der bedeutendsten Komponisten persönlichkeiten unserer Republik, war vor al lem Opernkomponist, der sich namentlich in den Neher-Opern der mittleren Schaffensperi ode als legitimer Fortsetzer des von Brecht und Weill begründeten gesellschaftskritischen, lehr haft-epischen Musiktheaters erwies. Aber auch verschiedene gewichtige Orchester- und Kam mermusikwerke, Klavierstücke, Lieder und Kan taten demonstrieren eindringlich seine auf stärkste Verdichtung der melodischen Linien bedachte Tonsprache, die das Laute, das Grelle und die Klangschwelgerei bewußt ver meidet. Seine antiromantische „Kunst der Aus sparung" verbindet strenges Formbewußtsein, kunstvolle lineare Stimmführung, herben Klandfe Charakter mit innerer Gespanntheit des Aa^F drucks. Obwohl sie durch gefühlsmäßige Ver haltenheit Distanz hält, besitzt seine Musik zugleich ein hohes Maß an Deutlichkeit und Verständlichkeit. Busonis neoklassizistische Bestrebungen führte Wagner-Regeny in sei nem Spätschaffen zur Synthese mit der sub jektiv modifizierten Dodekaphonie. Das letzte große Werk, das dem Komponi sten noch zu vollenden beschieden war, bevor sein Schaffen mit zwei Zyklen von Hesse-Lie dern (mit Klavier- und Orchesterbegleitung), wahrhaftigen „Liedern des Abschieds", die wie mehrere andere Werke des Meisters aus letzter Zeit von der Dresdner Philharmonie ur aufgeführt wurden, sowie einigen Liedern nach Texten von Wedekind und Fontane end gültig verstummte, war die 1967/68 als Auf tragswerk unseres Orchesters anläßlich des 20. Jahrestages der Gründung der DDR ge schaffene Kantate „An die Sonne“ für eine Altstimme und sinfonisches Orchester, die po stum im Jahre 1970 unter der Leitung von Kurt Masur und mit Hertha Töpper als Solistin ur aufgeführt wurde. In seiner letzten Schaffensperiode wandte sij^ Rudolf Wagner-Regeny mit Vorliebe antl^V mythologischen, philosophischen und religiö sen Stoffen zu, setzte er sich in Stunden der Muße besonders gern mit den Werken und Anschauungen der alten Schriftsteller ausein ander. Als kompositorische Früchte solcher Be schäftigung entstanden u. a. die Orchester stücke „Mythologische Figurinen", die latei nischen Psalmen „Cantica Davidi Regis" und die Schöpfungskantate „Genesis“. Auf der Suche nach einem Stoff von antiker Größe und Wucht, der ihm für ein neues Opernwerk vorschwebte, wollte er sich doch nach vielen Jahren des Schweigens, wohl auch der Hemm nis, wieder einmal der Musikbühne zuwenden, stieß er nicht von ungefähr auf die Tragödie „Der gefesselte Prometheus" des Aischylos (525 bis 456 v. u. Z.), des ältesten griechischen Tragikers und eigentlichen Schöpfers des alt klassischen Dramas. Das Stück faszinierte ihn derart, daß er sogleich begann, es für das mu sikalische Theater textlich-dramaturgisch einzu richten, es zu komprimieren und singbar zu ma chen. Dabei mußte das Altphilologendeutsch der ihm vorliegenden deutschen Übersetzun gen und Einrichtungen vermieden und die Ge danken des Aischylos in heutiges Deutsch eingekleidet werden, um jede Überladung mit allzuviel mythologischem Zierat zu vermeiden. Bei der Gestaltung des Textbuches leistete der ^Wiesbadener Musikwissenschaftler Karl Holl, tjr bekannte Verdi-Biograph, dem Komponi sten Hilfe. In dieser Situation wandte sich der Intendant des Staatstheaters Kassel, Dr. Hermann Schaffner, an Wagner-Regeny, ob er zur Er öffnung des neuerbauten Kasseler Staats theaters im Herbst 1959 eine Oper schreiben könne. Der Komponist wies auf den in Arbeit befindlichen „Prometheus“ hin, der akzep tiert wurde. So wurde das Werk nach seinen ursprünglichen Plänen in den Jahren 1957/58 vollendet; angesichts des epischen Stoffes und seiner distanzierten musikalischen Gestaltung war es freilich nicht eigentlich eine Oper ge worden, sondern gehörte zur Gattung des szenisch-mythologischen Oratoriums. Die Ur aufführung fand am 12. September 1959 in Kassel statt. Die musikalische Leitung hatte Paul Schmitz, die Titelpartie verkörperte Mar tin Matthias Schmidt. Herbert Kegel war der Dirigent der konzertanten DDR-Erstauffüh rung am 18. März 1960 in der Berliner Staats oper. Theo Adam sang den Prometheus, wie auch bei der nächsten konzertanten Darbie tung des Werkes unter Rolf Reuter zu den Berliner Festtagen 1984, die als Schallplatten- ^Bschnitt vorliegt. scheint das Schicksal der Partitur zu sein, dem Konzertsaal Vorbehalten zu bleiben, denn auch unsere heutige Aufführung findet ohne Szene statt. Dabei hatte Wagner-Rege ny für sein Stüde klare Inszenierungsvorstellun gen, die durchaus noch immer aktuell sind, kleidete er doch das gesamte „Prometheus"- Ensemble in moderne Kostüme, um dazu fest zustellen: „Ich weiß: ich breche hier mit einer Vorstellung in den Theateralltag hinein, die möglicherweise eine Schockwirkung auslöst. Das ist aber nur im ersten Augenblick so. Wenn man es liebevoll (und mit allen Konsequen zen) bedenkt, so kommt man zu einer Art von Theater, deren Eindringlichkeit sich niemand entziehen kann!" Der Mythos von Prometheus, jener berühm ten altgriechischen Sagengestalt, der den Menschen das Feuer, das er von der Sonne herunterholte, zum Geschenk machte, hat in der Kunst von der Antike über das Mittelalter bis zur Gegenwart verschiedenste künstlerisch geistige Interpretationen erlebt; erwähnen wir hier nur musikalische Werke wie Beethovens Ballett „Die Geschöpfe des Prometheus", Liszts sinfonische Dichtung und Skrjabins Tondich tung „Prometheus", Luigi Nonos Oper „Pro- meteo". Von den zahlreichen Komponisten des 20. Jahrhunderts, die attische Kultstücke zur Grundlage ihrer Bemühungen um das Musik theater machten, seien als die wichtigsten Repräsentanten Igor Strawinsky („Oedipus Rex") und Carl Orff („Antigonae" und „Oedi pus der Tyrann") genannt, die Wagner-Regeny bei seiner Konzeption eines antiken Vorwurfs, des „Prometheus", durchaus berührt haben. Daß er keinem der vorgegebenen Beispiele folgte, sondern eine Lösung fand, die seinem künstlerischen Weg entsprach, ist ein Zeugnis für die Eigenständigkeit des Komponisten. Das „Prometheus"-Drama enthält kaum Handlung und Dramatik im üblichen Sinne und ist dennoch hochdramatisch, weil von in nerer Dynamik erfüllt, und erweckt eine reiche Vorstellungswelt. Es bot Wagner-Regeny die Möglichkeit, seine auf das epische Musikthea ter zielenden Bestrebungen fortzusetzen. Ne ben der Spezifik des Dramaturgischen be stimmten aber vor allem die Bedeutung des Stoffes und die Weisheit der Gedanken des Aischylos den Komponisten zur musikalischen Gestaltung des Sujets: „Das .Feuer', welches Prometheus in unser immer tätiges Bewußtsein legte, steht: für Wärme, für Licht, für Liebe. Wärme ist der Kälte gegenüber, wie das Licht dem Dunkel, wie die Liebe dem Haß. Auf die kürzeste Formel gebracht heißt es: Wir ver ehren in Prometheus das .Leben'; das Leben, dem der Tod gegenübersteht. So habe ich mit dem Prometheus zu dem Leben JA gesagt." Weil Prometheus nicht nur als Kulturbringer schlechthin zu sehen ist, sondern zugleich als Sinnbild hartnäckiger Auflehnung gegen je des Gewaltregiment, als Sinnbild des Kamp fes gegen Tyrannei, des Ringens um die Zu kunft, die Freiheit des Menschengeschlechts, fügte Wagner-Regeny am Schluß der 4. Szene des jungen Goethe großartiges Prometheus- Gedicht „Bedecke deinen Himmel, Zeus" (1774) in den Gang des Aischyleischen Stückes ein, hat doch „wohl niemals jemand in der deut-