Volltext Seite (XML)
ZUR EINFÜHRUNG Zwar ist die gelegentliche Bezeichnung Eng lands als „Land ohne Musik" eine ungerechte Abwertung, immerhin aber hat das Inselreich seit der Blütezeit seiner Musikentwicklung vom 15. bis zu Henry Purcell am Ende des 17. Jahr hunderts für 200 Jahre keinen Musiker von europäischem Rang hervorgebracht. Hoch- Zeiten der Musik erlebte England lange mit „Importen", in erster Linie mit Musikern und Sängern aus Italien, mit Komponisten wie Händel, Johann Christian Bach, Joseph Haydn aus Deutschland. Ein zweiter „Orpheus Britan niens" nach Purcell erwuchs erst im 20. Jahr hundert mit Benjamin Britten. Mit ihm eroberte England wieder internationales musikalisches Terrain. Seine Begabung und die Verwirklichung seines Leitsatzes „Als Künstler will ich der Gemeinschaft dienen“ errangen ihm seine Popularität. Fest in der Tonalität wurzelnd — er selbst verstand sich als Schüler Purcells, Mozarts und Verdis — zeichnen übersichtlicher Satzbau, Freude am Entdecken neuer Klänge (die sich jedoch stets dem melodischen Prinzip unterordnen) und einfühlsames Nachzeichnen der dichterischen Vorlagen seine Kompositionen aus. Seine Ga be, mit sparsamsten Mitteln Atmosphäre zu schaffen, mit wenigen Strichen eine Gestalt, eine Situation, einen Seelenzustand zu cha rakterisieren, sicherte ihm seine größten Er folge als Musikdramatiker. Von den 19 eige nen Werken und Bearbeitungen für das Mu siktheater zählen „Peter Grimes“ (1945), „Al bert Herring“ (1949), „Ein Sommernachts traum" (1960), die Kinderoper „Let Us Make an Opera“, die Bearbeitungen von Purcells „Dido und Aeneas" und der „Beggar's Opera" von Gay/Pepusch zu den Repertoirewerken der Opernbühnen in aller Welt. Aber auch an Orchester-, Konzert-, Kirchen- und Kammer musik, an Liedern hinterließ Britten Bedeu tendes, denken wir nur an die Serenade für Tenor, Horn und Streicher (1943) oder an „The Young Person’s Guide to the Orchestra" (Purcell-Variationen/1945). Sein letztes Werk, „Tod in Venedig" nach Thomas Mann (1973), harrt noch der Entdeckung. Am 22. November 1913 in Lowestoft an der englischen Ostküste geboren, genoß Benja min Britten frühzeitig Klavier- und Komposi tionsunterricht, studierte bei Frank Bridge und am Londoner Royal College of Music. 1935 bis 1939 arbeitete er mit dem Dichter W. H. Auden zusammen, war 1947 Mitbegründer der English Opera Company, eines hochqualifi zierten Tournee-Ensembles, und 1948 des all jährlichen Sommerfestivals in seiner Wahlhei mat Aldeburgh. Als Pianist, vorwiegend als Begleiter seines Lebensgefährten, des Tenors Peter Pears, und als Dirigent eigener Werke war Britten auch auf der Bühne zu erleben. Im Jahr seines Todes, 1976, wurde er zum Pair of England erhoben. Das War Requiem zählt zu den bekann testen Schöpfungen Benjamin Brittens, ist es doch ein Werk von ergreifender Eindringlich keit und packendem Zugriff. Es entstand als Auftragswerk 1961 und wurde im darauffol genden Jahr zur feierlichen Einweihung der St.-Michaelis-Kathedrale in Coventry uraufge führt. Die Kirche war im November 1940 wäh rend des deutschen Bombenangriffes auf die Stadt zerstört, dann in achtjähriger Arbeit, von 1954 bis 1962, wieder aufgebaut worden. Die Einweihungsfeierlichkeiten sollten dem Gedenken an die Toten des Krieges, dem Friedenswillen, der Bereitschaft der Völker zur Versöhnung und der Brüderlichkeit Ausdruck geben, über den aktuellen Anlaß hinaus ist Brittens erschütterndes Kriegs-Requiem ein immer gültiges Werk gegen den Krieg, das Anklage, Mahnung und Aufforderung zur be wußten Tat für den Frieden in seine Aussage einbezieht. Die erste Aufführung in der DDR fand in Dresden am 13. Februar 1965 statt, dem zwanzigsten Jahrestag der Zerstörung dieser Stadt. Im Zeichen des Gedenkens an dieses Ereignis und der Warnung vor Wiectr- holbarem steht auch unsere heutige Au^B rung. Brittens Werk schließt sich sehr frei an die Re quiem-Form an, die als Totenmesse, Missa pro defunctis, seit dem 13. Jahrhundert Bestand teil der katholischen Liturgie ist. Ihre musika lische Substanz bezog sie zunächst aus der mittelalterlichen gregorianischen Melodik, die seit dem 15. Jahrhundert auch in einem mehr stimmigen Satz gefaßt wurde. Seit dem 16. Jahrhundert schufen fast alle bedeutenden Komponisten Requiem-Vertonungen, die im mer häufiger vom gregorianischen Grundma terial abwichen und die Ausdrucksformen ih rer Zeit einbezogen. Im 19. Jahrhundert führte die Entwicklung zu Requiem-Kompositionen für den Konzertsaal außerhalb des gottes dienstlichen Gebrauchs, damit zu einer Viel falt der Gestaltungsmittel und Erweiterung des künstlerischen Inhalts. Allein im Verlauf des letzten Jahres konnten unsere Konzert freunde bei den Requiem-Aufführungen von Verdi, Hindemith und Brahms durch die Dresd ner Philharmonie diese Tendenz nachvollzie hen. Deutlich ist zu erkennen, wie die Liturgie mehr und mehr zu einem Gerüst wird für neue ästhetische Auffassungen, für eine eigene Weitsicht und den subjektiven Kompositions- «des Künstlers, die sich im Werk Überzeit mitteilen. Benjamin Britten setzt in seinem War Requiem seinerseits Akzente: Er gibt dem lateinischen Messetext neuartige Gestalt und ergänzt die liturgischen Abschnitte darüber hinaus durch Verse des englischen Dichters Wilfred Owen, die als ausgesprochene Antikriegslyrik einen außerordentlich realistischen Kontrapunkt set zen. Owen wurde 1917 in Frankreich verwun det; während der Genesungszeit schrieb er in England den größten Teil dieser Gedichte. 1918 wieder an die Front verpflichtet, ist er eine Woche vor Kriegsende im Alter von 25 Jahren in Nordfrankreich gefallen. Seine Worte sind harte, schonungslose, auch von bitterem Zynis mus gezeichnete Kommentare zum sinnlosen, verbrecherischen Völkermord. Britten wählte aus Owens Versen solche aus, die sich in un mittelbaren Bezug zum überlieferten Messe text bringen ließen. Einen der Verse Owens setzte Britten seinem Requiem als Motto vor an: „Mein Gegenstand ist der Krieg und das d des Krieges. Die Dichtung ist im Elend — Alles, was ein Dichter heute tun kann, ist warnen." Brittens Kunst, Stimmungen auf kleinstem Raum zu erzeugen, ist vom ersten Takt an so suggestiv wie die Fähigkeit, Kontraste mit ein fachsten Mitteln hervorzubringen. Verblüffend und fesselnd in der Wahl der Klangfarben, hält diese Musik in jedem Takt das Interesse des Hörers wach. Der ohnehin schon großen Besetzung von Chor und Orchester fügt Brit ten noch Knabenchor, Kammerorchester und Orgel hinzu und erzielt dadurch Klänge von unerhörter Plastik. Die textlichen Gegensätze zwischen dem lateinischen Messetext und den Owen-Gedichten werden durch eine komposi torische Teilung bewußt unterstrichen: den liturgischen lateinischen Text übernehmen So pransolo, gemischter Chor mit Orchester und Knabenchor mit Orgelbegleitung. Die Gedich te Owens sind dem Tenor- und Baritonsolo übertragen, die ein Kammerorchester beglei tet. Das große Orchester wird erweitert durch umfangreiches Schlagzeug und einen Blech bläserchor, der stechende und messerscharfe Akzente setzt. Dem Kammerorchester gehören ein Holzbläserensemble, Horn, Schlagzeug, Harfe, und Streichquintett an. Das War Requiem gliedert sich in sechs Sät ze: Requiem aeternam, Dies irae, Offertorium, Sanctus, Agnus Dei, Libera me. Der erste Satz umreißt mit wenigen Takten die düstere Stim mung einer Totenfeier. Zu dem beklemmen den, streng syllabischen Psalmodieren des gemischten Chores „Requiem aeternam" ertönt im Hintergrund die Totenglocke. Der Tonfall der Musik folgt ganz dem sakralen Vorbild mittelalterlicher Tonkunst. Das erste Gedicht von Wilfred Owen bringt eine tiefe inhaltliche Dissonanz, einen vollkommenen Stimmungs bruch zum ersten Abschnitt. In einem Rezita tiv des Tenors über erregenden Streicherrhyth men, Harfentremoli und Glissandi wird in zy nischem Ton der Sinn dieser Totengebete brüsk in Frage gestellt. Die Verzweiflung über den Tod auf dem Schlachtfeld macht sich im Hohn über die asketische Totenfeier Luft. Diesen bedrückenden Antagonismus bindet das litur gische, abschließende „Kyrie eleison". Der zweite Satz „Dies irae", Tag des Zorns, wird hier als Tag der Schlacht, als Aufschrei gegen die Unmenschlichkeit des Krieges umgedeutet. Die mannigfachsten musikalischen Gestal tungsmittel werden diesem Gedanken dienst bar gemacht. Das zweite Owen-Gedicht bringt einen lyrischen Ton in das Gemälde. Das Ario so des Baritons, begleitet vom Kammerorche ster, malt die Stimmung in der Nacht vor dem Kampf. Den Krieg als „König schrecklicher Ge walten“ bringt das Sopransolo „Rex tremen- dae majestatis“. Auch hier wird der ursprüng lich liturgische Sinn auf den Krieg umgedeutet, und das Baritonsolo „Heb langsam dich auf, du schwarzer Arm, Kanone, in das All" flucht der Vernichtungsmaschinerie des Krieges. Hoff nungslosigkeit und Resignation über den Tod auf dem Schlachtfeld sind der Tenor dieses Satzes.