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BRAHMS: 2. Sinfonie „Ich bin in Versuchung, eines Ihrer Werke abzuschreiben und dabei manche unbedeu tende Veränderung vorzunehmen. Es wim melt nun plötzlich von Dissonanzen, und ich wüßte gern, wie Sie sich damit vertrü gen. Ich versichere Ihnen, daß ich den rhythmischen Verlauf Ihrer Komposition nicht anzutasten gedenke. Lediglich die Reihenfolge der Variationen und die Har monik möche ich umstellen - ohne das Wesentliche der Ideen unkenntlich zu ma chen!“ „Briefwechsel mit Brahms“, notiert 1973 (!) von Mauricio Kagel für die Pro gramme der Hamburger Brahms-Wochen. Selbstverständigung und Handreichungen zu „Variationen ohne Fuge für großes Or chester über ,Variationen und Fuge* über ein Thema von Händel für Klavier op. 24 von Johannes Brahms 1861/62“? Keine Ausnahme. Arnold Schönberg, der von Brahms vor allem „Systematik des Satz bildes“ sowie „Ökonomie und dennoch: Reichtum“ lernt, instrumentiert dessen „Piano-Quartett“ op. 25. Brahms’ Schaf fen offenbart also weitaus tiefere Impulse für nachfolgende Komponistengenerationen, als wir ihm - dem vermeintlichen „Tradi tionalisten“ - gemeinhin zubilligen wollen. „Entwickelnde Variation“, „kontrastier rende Ableitung“, Zusammenhangsdenken und -formen auf allen Ebenen, das auf be ständigem Wechseln und Interpretieren des thematischen Gedankens gründet, sind Gestaltungsprinzipien mit Perspek tive. Es gibt zweifellos bei Brahms noch viel Unerschöpftes, „Zwischen-den-Noten- zeilen-Stehendes , das nach Fortführung, nach Reflektion ruft. Brahms ist sich der verpflichtenden Tra dition sinfonischen Schaffens bewußt. So schreibt er noch Anfang der 1870er Jahre an Hermann Levi: „Ich werde nie eine Symphonie komponieren! Du hast keinen Begriff davon, wie es unsereinem zu Mute ist, wenn er immer so einen Riesen hinter sich marschieren hört“. Der Riese ist Beet hoven. 1876 vollendet Brahms sein hart er kämpftes „Schmerzenskind“, die Sinfonie Nr. 1 c-Moll. Ein Jahr päter, innerhalb weniger Monate, entsteht die Zweite, die D-Dur-Sinfonie. Sie wird in Wien am 30. Dezember 1877 unter Hans Richter ur aufgeführt. Das wiegende, fast pastorale Grund thema des viersätzigen Werkes findet sich - vielmals gewandelt und in untcrsch^^- lichem Kontext“ - in sämtlichen Te^Fi der Sinfonie. Der liedhafte, ausschwin gende 3/4-Gestus prägt das in Moll be ginnende „zweite“ Expositionsthema. Als Leitgedanke durchdringt es - in den Po saunen, später auch in Flöte und Oboe - das wehmütig-klangvolle Adagio. Der dritte Satz, ein graziöses, zierliches, vari antenreiches Allegretto, nimmt es als nuan ciert ausgetragenes tänzerisches Thema auf, wandelt es dann zu spritziger Aus druckskraft. Durchführungsarbeit, bestän diges Verändern, In-neue-Zusammenhänge- Stellen motivischer Grundgedanken, zeich net dieses Werk, Brahms’ Kompositions weise überhaupt, aus. Gewiß wurde Brahms zu dieser „Pasto ralsinfonie“ (Kretzschmar) durch Erleb nisse und Eindrücke von der landschaft lichen Idylle des Wörther Sees angeregt, ja mitgerissen. Emphatisch schrieb ^^r Meister an Hanslick: „Der Wörther Se^^z ein jungfräulicher Boden, da fliegen die Melodien, daß man sich hüten muß, keine zu treten. . .“ Doch sind Energie, biswei len heroische Stimmungen sowie Konflikte auch in diesem Werk nicht zu überhören. Thomas Schinköth Änderungen vorbehalten! -,50M III-18-123 LpG 697 016 88