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JÜDISCHE CHRONIK „Ich bin an jenem 10. November wie im mer mit dem Fahrrad zur Schule gefahren. Weil die israelitische Schule in der Gustav- Adolf-Straße nicht mehr ausreichte, waren wir seit einigen Monaten in der katho lischen Schule in der Alexanderstraße unter gebracht. Wie jeden Morgen habe ich mein Fahrrad in den Keller getragen und sehe, daß kaum ein Rad da ist. Dann sagt mir jemand: Heute ist keine Schule, heute ist hier alles fürchterlich, die Synagoge in der Gottschedstraße brennt und ,Bamber ger und Hertz“ brennt und viele Geschäfte haben sie eingeschlagen. Da bin ich mit meinem Fahrrad los und habe mir alles angesehen. Vor der brennenden Synagoge habe ich eine fürchterliche Wut gekriegt, auf wen auch immer. Ich habe nicht begrif fen, warum das alles passiert ist, wie sollte ich auch, ich war ein Junge von 13 Jahren.“ Erinnerungen des ehemaligen Leipzigers Rolf Kralovitz (siehe Leipziger Blätter 13/1988): Sie machen betroffen, erschüt tern, führen das Unvorstellbare ins Be wußtsein. Unauslöschlich brennen die Ge danken an das schreckliche „Werk“ der Nazis, die Pogromnacht, in den Herzen der Betroffenen. Allein die Erinnerung an ein System, in welchem jegliches Maß Menschlichkeit, jegliche ethischen Werte mit Füßen getreten wurden. Man schwört sich: Nie wieder! Doch - seit den 50er Jahren ist in der BRD wieder Platz für Antisemitismus, für Reaktion. Die barba rische Rassen„theorie“, die Verleumdungen leidgeprüfter Menschen werden erneut heraufbeschworen. Künstler rufen zum Widerstand auf: Paul Dessau schreibt, als Protest gegen neofaschistische Umtriebe, 1956 den „Anachronistischen Zug“, 1961 den „Marburger Bericht“. Und er, der En kel des bekannten Synagogenkantors Mo ses B. Dessau, regt die Komposition einer „Jüdischen Chronik“ an, fordert Künstler kollegen auf, sich an dem Werk zu beteili gen. Jens Gerlach, Jahrgang 1926, der Autor des „Marburger Berichtes“, notiert den Text - eine Dokumentation bewegender Ausdruckskraft zwischen Qual und Auf begehren. Die knappe Wortsprache fesselt, das Nötige wird mit erschütternder Ein dringlichkeit gesagt. Sie ist zugleich Inspi ration für den musikalischen Kommentar. Unterschiedliche Handschriften - von Bo ris Blacher, Paul Dessau, Karl Amadeus Hartmann, Hans Werner Henze und Ru dolf Wagner-Regeny - provozieren Kon traste, verschiedene Sicht- und Emotions weisen. Doch das Anliegen eint. Dumpfe, leise-eindringliche Schläge ren sofort ins Geschehen. Boris Blacher notiert in den Solostimmen deklamato rische Gesten, die die dokumentierende Textaussage hervorkehren: Dies geschieht heute. . . Die sparsam, doch prägnant ein gesetzten Instrumentenfarben kommentie ren, vertiefen. Rudolf Wagner-Regeny führt den Pro log fort. Der herbe Klavierton setzt Ak zente, läßt aufhorchen, ja rüttelt auf. Die Konturen des emotionsvollen musikalischen Gewandes werden schärfer. Furcht tritt wieder in die gebrandmarkten Menschen. Erinnerungen schmerzen: Es waren die gleichen Zeichen, die vorausgingen dem Chaos. Unauslöschlich ist die Vergangen heit. Die Verantwortung ist den Heuti gen auferlegt. Der Kommentarchor bäumt sich gegen Schrecken und Grausamkeiten auf. . . Karl Amadeus Hartmann, der mit „SW plicius Simplicissimus“ 1934/35 gegen die Tyrannei des Naziregimes auftritt und „in den ersten Kriegstagen September/Novem- ber 1939“ das Erahnte in das „Concerto funebre“ bannt, bürdet dem sensiblen In strumentalklang die Last der Tragik auf. Zweiter Teil der „Jüdischen Chronik“: Ghetto. Das sind Rauchschwaden der Ver nichtung, der Erniedrigung, des Mordes. Doch das ist auch Aufbegehren, ist die bittere Kraft der Verfolgten. Die fast innige, vom Soloinstrument vorgetragene Melodik - sie prägt sich als Leitmotiv ein - wird erschüttert. Sie ist beschädigt. Tra gik wird zum schrillen Aufschrei. In diese vor allem instrumental gezeich nete Klangwelt dringt konturenscharf der Chor (a cappella) ein, eröffnet Hans Wer ner Henzes Bekenntnisstück. Aufstand. Mein Volk erhebe dich gegen den Tod. Lastbeladen dringen die Worte des Spre chers ins Bewußtsein - zerberstend unter der drückenden Schwere von wiederauf keimender Barbarei. Henze schreibt eine kontrastreiche, präzise, sehr maßvolle iwache. Dumpfe, nichtmotorische rhyth- ^ßche Aufgewühltheit (Schlaginstrumente) - dann wieder bedenkliche Verhaltenheit. Der Schein trügt. . . Ruhe kommt nicht auf. Symbolisch, nahezu choralhaft - doch stets energisch! - deklamieren die Solisten die Bibel-Verse „Frage, Weisheit Abra hams“. Es folgt der Bericht vom Aufstand im Warschauer Ghetto, in aufbäumender, ja infernalischer Deklamationsschärfe von Paul Dessau komponiert. Und noch ein mal errinnert Henze an den emotionstie fen Chor „Ach, Erde, bedecke mein Blut nicht!“ Dessaus Epilog greift die von Bo ris Blacher eingangs vertonten Schilderun gen auf, doch gewandelt. Statt leiser Ein dringlichkeit schreibt Dessau aufpeit schend, atemlos. Leid und Tragik werden zur Mahnung: „Schuldig wird der Un schuldige, wenn er nicht warnt vor dem E^l in die Schuld. „Und - „Seid wach- Fragen, Gedanken drängen sich dem Hörer des Werkes auf: Wie bewußt sind uns heute diese ergreifenden Zeugnisse von Unmenschlichkeit, barbarischer Zerstörung, geschärften Hasses? Täglich strömen zahl lose Menschen an dem schlichten Gedenk stein in der Gottschedstraße, wo 1938 die Synagoge sinnlos niederbrannte, vorbei. Lassen sie sich Zeit, innezuhalten und nachzudenken? HENZE: Erinnerungen an Paul Dessau (1919} Paul lernte ich 1949 kennen. . . Er war auch der einzige Mensch, der sich um mich kümmerte und mich mit Zuspruch und frischem Obst versorgte, als ich im Früh jahr 1949 in schlechter Verfassung im Westend-Krankenhaus lag. Er reiste täg lich von Zeuthen bis zu mir, ich weiß noch, wie ich durch diese so freundschaftliche Ge ste, die mit völliger Selbstverständlichkeit ge macht war, neuen Mut und mehr Selbst vertrauen bekam, als ob es genauso selbst verständlich sei wie Pauls Besuche, daß ich gesunden und an die Arbeit zurückkeh ren würde. Nie hat jemand mir von Mo zart mit größerer Sachkenntnis und mit mehr Liebe gesprochen als Paul, und in al lem, was er sagte, zeichnete sich seine Ästhetik ab, die mir ungemein gefiel, die mich erstmals zum Nachdenken brachte über die Rolle des Künstlers in der Ge sellschaft. Für ihn bestand . . . die Aufgabe des Komponisten im ununterbrochenen dialektischen Rapport mit dem täglichen Leben, in Wechselbeziehungen und in einer geradezu fieberhaft kämpferischen Exi stenz. Ich war vielleicht zu jung damals und auch noch befangen in der westlichen Atmosphäre des kalten Krieges, um alles, was Paul über politische Dinge sagte, ganz verstehen zu können - aber darum be mühte er sich immer wieder, mir die Au gen zu öffnen für die Erweiterungsmög lichkeiten meines Weltbildes, und in der Tat lernte ich dazu, verstand einige Dinge besser. Paul machte sie mir sinnlich wahr nehmbar. Ich verstand, wie er zutiefst be müht war, die Musik als einen lebendigen Bestandteil der Welt, als Rede und Ant wort, als Istrument des Klassenkampfes zu verstehen und zu gestalten, wobei es ihm auch darum geht, die tradierten Aus drucksmittel auf dem neuesten Stand ihrer technischen Entwicklung in diesen Kampf einzubringen.