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SIEGFRIED STÖCKIGT, Jahrgang 1929, gehört seit mehr als dreißig Jahren zu den namhaftesten Piani sten der DDR. Im Alter von neun Jahren erhielt er den ersten Klavierunterricht in seiner Heimatstadt Lengen- feld/Vogtland. Von 1946 bis 1950 studierte er an der Hochschule für Musik in Leipzig, Klavier bei Hugo Steurer, und legte sein Examen in Klavier mit Aus zeichnung ab. Bei nationalen und internationalen Wettbewerben wurde er wiederholt ausgezeichnet. Seit 1952 unterrichtet Siegfried Stoekigt an der Hoch schule für Musik „Hanns Eisler" Berlin und ist diesem Institut noch heute als Professor für Klavierspiel ver bunden. 1966 zeichnete ihn die Regierung der DDR mit dem Kunstpreis aus, 1974 erhielt er die Ehrennadel des Verbandes der Komponisten und Musikwissen schaftler, und im selben Jahr ehrte man ihn mit der Verleihung des Nationalpreises der DDR. Auslandsgastspiele führten den Künstler in viele Län der Europas, nach Süd- und Mittelamerika und nach Vorderasien. Schallplatten, Rundfunk- und Fernseb^^^ pflichtungen bestätigen seine internationalen Erfc^^^ Neben seiner pianistischen und pädagogischen Tätig keit tritt Siegfried Stoekigt auch als Komponist in Er scheinung. ZUR EINFÜHRUNG Mit einem „Nationalitätenprogramm'' eigener Art eröffnen die Dresdner Philharmoniker die Spielzeit 1989/90. Bereits von seinem letzten Konzert vor zwei Jahren ist uns George Byrd als prädestinierter Anwalt der Musik seiner Heimat in Erinnerung. Hatte er sich seinerzeit ausschließlich George Gershwin gewidmet, ist es nun ein regelrechter „amerikanischer Abend" mit Musik aus dem Norden und Sü den des amerikanischen Kontinents, sind es samt und sonders Werke aus unserem Jahr hundert und — dennoch — seit Jahrzehnten Erfolgstitel in jedem Konzertprogramm. Trotz unterschiedlicher Handschrift ist ihnen eines gemeinsam: ihre Nähe zur Volksmusik aus der Heimat ihrer Komponisten und — da die po puläre Musik Amerikas stark vom Tanz ge prägt ist — ihr tänzerisch-rhythmischer Grund gestus. Hierin liegt wohl auch ihre besondere Publikumsgunst begründet. H e i t o r Villa-Lobos wurde am 5. März 1887 in Rio de Janeiro geboren, hatte sich — weitgehend autodidaktisch — zum Musiker ausgebildet und lange Jahre seinen Lebens unterhalt als Cellist in Kino- und Revuethea ter-Orchestern verdient. Nach ersten, durch weg unbedeutenden Kompositionen unternahm Villa-Löbos zwischen 1905 und 1912 mehrere, zum Teil ausgedehnte Reisen durch Brasilien, auf denen er unter dem Eindruck der ver schiedenartigsten musikalischen Erfahrungen zu einer eigenen, unverkennbar nationalen Tonsprache fand. Die Beschäftigung mit der europäischen Musik der Zeit — vor allem den Werken Debussys, Dukas', Rimski-KoraV kows und Strawinskys — hinterließ zeitweise ihre Spuren. „Villa-Löbos scheint sich inner halb der Debussyschen Dissonanzen sehr wohl zu fühlen", urteilte die Presse, „und in den meisten Fällen erzielt er absolut eigenartige und exotische Effekte.“ Doch trotz aller An erkennung und aller Erfolge blieb es nicht verborgen, daß Eigenart und Exotik dieser Musik zu großen Teilen einer Unkenntnis tra ditioneller Kompositionstechniken zuzuschrei ben waren. Während Villa-Löbos selbst diese Unkenntnis regelrecht kultivierte und sich mit ihr schmückte, machten andere sie ihm zum Vorwurf: „Villa-Löbos braucht eine lange Stu dienzeit in den großen europäischen Musik zentren, wo er die Ratschläge der Lehrmeister hören und aus ihnen den notwendigen Nutzen ziehen kann“, hieß es in der Rezension eines seiner Werke. So kam es zu einem Staats-Sti pendium, das den Komponisten 1923 nach Paris führte. Mit mehreren Unterbrechungen blieb Villa-Löbos bis 1930 in Paris; schon bald nach seiner Rückkehr nach Brasilien übertrug ihm die Regierung die Organisation der Mu sikausbildung und die Aufsicht über den Mu sikunterricht an den Schulen des Landes. Den pädagogischen Aufgaben, die 1942 in der Gründung des Conservatorio Nacional de Can- ^kOrfeönico gipfelten, widmete er sich mit so Opßem Engagement, daß der Plan, so bald wie möglich wieder nach Paris zurückzukeh ren, immer wieder verschoben und schließ lich ganz aufgegeben wurde. Reisen und Kon zerttourneen durch Südamerika, in die Ver einigten Staaten und nach Europa machten nicht nur Villa-Löbos und seine Werke be kannt, sie verhalfen auch der brasilianischen Musik insgesamt zu internationalem Ansehen. Hoch geehrt starb Heitor Villa-Löbos am 17. November 1959 in Rio de Janeiro. Zeit seines Lebens hat sich Villa-Löbos dagegen gewehrt, irgendeinem „Ismus" zugerechnet zu werden. Einen Meister allerdings hat Villa-Löbos nicht nur für seine eigenen Werke, sondern für je de Musik schlechthin anerkannt: Johann Se bastian Bach, „dessen Reichtum, Tiefe und Universalität die gemeinsame Quelle der Mu sik aller Nationen und aller Völker darstellt". Unter diesem Aspekt ist es kein Anachronismus, daß Villa-Löbos die Tonsprache Bachs in das musikalische Idiom seiner Heimat zu „über setzen" versuchte; so entstand nach der Be arbeitung einiger Präludien und Fugen des „Wohltemperierten Klaviers" gleichsam als „.Handgelenksübung" 1930 die erste Bachiana ■ksileira, der bis 1945 acht weitere folgten. fSer autobiographischen Notiz des Komponi sten von 1939 zufolge war die vierte Suite ursprünglich für Gesang und Kammerorche ster konzipiert worden. Es mag sich dabei lediglich um einen nicht weiter verfolgten Plan gehandelt haben, denn tatsächlich waren es vier (zunächst voneinander unabhängige) Klavierstücke der Jahre 1930 bis 1940, die Vil la-Löbos als Bachianas Brasileiras Nr. 4 zusammenfaßte und — wahrscheinlich noch vor der Uraufführung der Solofassung am 11. Oktober 1941 — orchestrierte. Wie schon in der zweiten Suite sind auch hier die Beziehungen zur Musik Johann Sebastian Bachs eher oberflächlicher Natur. Um so deut licher aber tritt die Folklore als Quelle zu tage, und der Musikforscher Adhemar Nobre- ga konnte sogar für den dritten und vierten Satz die exakten Vorlagen ausfindig machen: die Arie beruht auf einem Volkslied aus dem Nordosten Brasiliens, das in zwei verschiede nen Versionen überliefert ist. Villa-Löbos ver bindet beide Fassungen zu einer eigenen, rhythmisch gestrafften Variante. Der Tanz in Form eines Miudinho — einer der Samba na hestehenden Tanzschrittfolge — geht auf eine folkloristische Melodie zurück, die der Kom ponist in seinem Handbuch brasilianischer Volkslieder notiert hat. Der erste Satz, Präludium, mag in seiner Klangmischung von Solo-Posaune und „Pe dalstimme" der tiefen Streicher am ehesten dem Charakter eines Bachschen (Orgel-) Wer kes entsprechen. Der Choral dagegen ist ei ne musikalische Vorstellung der Steppenge biete des brasilianischen Hinterlandes: deut lich läßt sich der Ruf des Araponga heraushö ren, eines dort häufig zu findenden Vogels: ein schneidender hoher Ton, der immer wieder die andächtige Ruhe des Chorals unterbricht. Der brasilianische Komponist, Dirigent und Pädagoge Camargo G u ä r n i e r i , Sohn eines sizilianischen Emigranten, wurde 1907 in Tiete im Staat Säo Paulo geboren. Bei der Taufe erhielt er den zweiten Vornamen Mo zart, den er aber nie offiziell führte. Nach ei ner musikalischen Grundausbildung beim Va ter, der Flötist in einem Blasorchester war, wurde er Schüler von Lamberto Baldi und Ma rio de Andrade am Konservatorium der Stadt Säo Paulo. Die erste Komposition, einen bra silianischen Tanz für Klavier, legte er mit 21 Jahren vor. 1936 errang er den 1. Preis des Städtischen Kulturdepartments von Säo Pau lo mit einem Chorwerk (Coisa deste Brasil). Viele weitere Preise und Ehrungen folgten seitdem, so daß Guärnieri zu den meistausge zeichneten Komponisten der Welt zu zählen ist. 1938 verhalf ihm ein Regierungsstipen dium zu einem Studienaufenthalt in Paris, wo Charles Koechlin sein wichtigster Lehrer wurde. Der Ausbruch des zweiten Weltkrieges zwang ihn zur Rückkehr in die Heimat, und nun wurden die USA sein hauptsächliches Wirkungsfeld. Dort gehörte Sergej Koussewitz- ky zu seinen Förderern. Guärnieri ist Grün dungsmitglied der Brasilianischen Musikaka demie (1945) und heute ihr Ehrenpräsident, Professor h. c. des Staatskonservatoriums von Bahia, seit 1960 Dirigent des Konservatoriums von Säo Paulo u. a. m. Mit Heitor Villa-Lö-