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langen z. B. der Sinfonien Gustav Mah lers besitzen exemplarischen Charak ter. Auch der Komponist Bernstein konnte schon bald auf der Erfolgsleiter ganz nach oben klettern: Sein viertes Musi cal, „West Side Story“, wurde zum Welt erfolg und erlebte allein am Broadway 734 Aufführungen. Dieser Erfolg be wirkte aber auch, daß die anderen Werke Bernsteins - Lieder, Suiten, Sin fonien, Bühnenmusiken, Opern, Ballette und Musicals - unverdient in den Hin tergrund gedrängt wurden. In all seinen Werken hat er es fertiggebracht, die schwer vorstellbare Gratwanderung zwischen E(rnster)- und U(nterhal- tungs)-Musik zu meistern, ohne abzu stürzen. Vor nicht allzu langer Zeit for mulierte die j^tung „Sunday Times“ treffend: „Die Homogenität der Arbeits leistung Bernsteins war für alle eine große Lehre. Die Jazz- und Popele mente in den konzertanten Werken sind der natürlich^xusdruck von musikali scher Sympathie, für die normale Kate gorien und Schranken nicht existieren. Seine Bühnenwerke und seine Sinfo nien sind Produkte einer Gesinnung und einer Sprache.“ Die Idee zur „West Side Story“ reicht bis ins Jahr 1949 zurück, an ihre Ver wirklichung konnte Bernstein jedoch erst 1956 gehen. In jenem Jahr schreibt er in einem „West Side Story“-Logbuch: „... ,Romeo' muß um ein Jahr verscho ben werden. Man weiß nie, wozu so et was gut ist: Ein Ding wie dieses sollte gründlich gesalzen, gepökelt, geräu chert und lange abgelagert sein, ehe man es hervorholt. Überhaupt: Es ist ein derart problematisches Werk, daß es nicht abgelagert genug sein kann. Das Hauptproblem: die feine Scheide wand zwischen Oper und Broadway zu finden, zwischen Wirklichkeit und Dich tung, zwischen Ballett und bloßem Tanz, zwischen Abstraktion und Abbil dung.“ Die Handlung ist ein moderner „Romeo und Julia“-Stoff, nur daß die Rivalität der beiden Familien Montague und Capulet hier ins Zeitgenössische transponiert ist: Zwei jugendliche Banden bekämp fen sich schonungslos. Im Mittelpunkt steht das Liebespaar Tony und Maria, den rivalisierenden Parteien angehö rend. Bernsteins faszinierende Musik verschmilzt Sinfonisches mit den Mit teln des Jazz, lateinamerikanische Folk lore und Popmusik ebenso einbezie hend. Das Tänzerische in der Musik do miniert, da die Handlung zum großen Teil durch Tanz dargestellt wird. Daß die „Sinfonisch^Tänze“ ein Eigenleben zu führen imstande sind, beweist jede kon zertante Aufführung aufs neue. Blues, Mambo, Cha-Cha-Cha, aber auch sinfo nische Formen wie eine Fuge (Freneti scher TanzjObren Thematik eng der Zwölftonmusik verwandt ist, über ein Scherzo bis hin zu wilden, grausamen Tanzrhythmen - Bernstein verwendet alle tänzerischen Elemente gleicherma ßen virtuos, schreckt vor klanglichen Härten nicht zurück. Das erlesene Or chestergewand schuf er in Zusammen arbeit mit den Jazz- und poperfahrenen Sid Ramin und Irwin Kostal. 1938 schrieb Arnold Schoenberg über GEORGE GERSHWIN: „Mir scheint es unbezweifelbar, daß Gershwin ein Neuerer war. Was er mit Rhythmus, Harmonie und Melodie getan hat, ist nicht nur Stil. Es unterscheidet sich grundsätzlich von allem Manierismus mancher ernsthafter Komponisten.“ Und Leonard Bernstein 1973 im Vorwort zu einem Gershwin-Buch: „Die hohe Musikkritik hat Gershwin ganz einfach nicht in ihr Namensregister bedeuten der Komponisten aufgenommen ... und es fällt ihr nicht schwer, seine Werke samt und sonders in Grund und Boden zu verdammen. Die ,Rhapsody in Blue' etwa ist ein Paradestück für strukturelle Unzulänglichkeiten: Sie ist eine Anein anderreihung von Episoden, deren ein ziger flüchtiger Zusammenhalt in künst lichen Übergängen, gekünsteltem Ton artwechsel und Kadenzen aus zweiter Hand besteht. Es ist aber nicht so wich tig, was an dieser Rhapsodie falsch ist; wichtig ist, was an ihr stimmt. Und was stimmt, ist, daß jede dieser unzulänglich aneinandergereihten Epis^sn in sich melodisch inspiriert ist, harmonisch echt, rhythmisch authentisch ... es war kein geringerer als Arnold Schoenberg, dieser Meister der Form uäJ der Struk tur, der ,das Authentische^ Gershwins Musik erkannt hat.“ Gershwins Ziel war, eine künstlerisch wertvolle, volkstümliche Musik zu schreiben, die von allen Amerikanern, ob schwarz oder weiß, als „ihre“ Musik verstanden würde. Und das ist ihm ganz offensichtlich gelungen. Hier die Ge schichte der „Rhapsody in Blue“: Paul Witheman, der großartige Jazzmusiker, gab Gershwin den Auftrag, für ihn und sein Orchester ein großes Stück „in a jazz idiom“ zu schreiben. Gershwin zeigte anfänglich keine große Lust für dieses Vorhaben. Er hatte noch keine Note geschrieben, als er in einer der größten amerikanischen Tageszeitun gen, der „New York Harald Tribüne“, las, er arbeite an einem Stück für gro ßes Orchester. Verärgert setzte er sich mit Whiteman in Verbindung, um ihm den Auftrag zurückzugeben, machte sich nach längerem Hin und Her aber doch an die Arbeit. Die Form der Rhap sodie gab ihm formal Bewegungsfrei heit. Von ihrem Inhalt sagte er: „Ich hörte sie gleichsam als musikalisches Kaleidoskop Amerikas - unseres unge heueren Schmelztiegels, unserer typi schen nationalen Eigenheiten, unseres Blues, unserer großstädtischen Un rast.“ So sollte das Stück auch „Ameri can Rhapsody“ heißen. Gershwins Bru der Ira hatte um diese Zeit eine Ausstel lung von Bildern des Impressionisten Whistler gesehen, die Titel wie „Noc turne in Blau und Grün“ oder „Harmonie in Blau“ führten. Er behauptete, diese Stimmungen in Georges Musik wieder zufinden - so kam es zu dem Titel „Rhapsody in Blue“. GersO'in schuf eine Fassung für zwei Klaviere und überließ - wie immer - seinem Freund Ferde Grofe die Instrumentation. Der kannte die Eigenheiten jeohts der drei undzwanzig Mitglieder de^Jrchesters von Paul Whiteman, das für die erste Aufführung der „Rhapsody“ um neun Musiker verstärkt wurde, und schrieb jedem seinen Part sozusagen „nach Maß“. Am 12. Februar 1924 erfolgte die Uraufführung mit unvorstellbarem Er folg. Vielen Amerikanern erschien die ser Tag als die Geburtsstunde einer echten amerikanischen Musik, und der junge Komponist wurde beispiellos ge feiert. Und überall, wo heute das Glis sando der Klarinette als Auftakt zur „Rhapsody“ erklingt, ist ihr der Erfolg noch genau so sicher wie 1924.