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der Meister gleich zu Beginn und auch im Verlaufe des Satzes mehrfach nutzt. Unge wöhnlich dicht ist die thematische Arbeit, die das charakteristische Kopfmotiv des Themas, den abwärtsgerichteten punktierten Oktav sprung, abspaltet und über weite Strecken allein das Feld beherrschen läßt. Das Beharren auf diesem lapidaren, maskenhaft starren Motiv verleiht dem Satz den Charakter eines freudlosen, dämonischen Dahinjagens, ohne Ziel, in gespenstiger Unrast. Es gibt kaum einen Erklärer, dem angesichts dieser Musik nicht der Begriff des Taumels in die Feder ge flossen wäre. Damit aber wird der Bogen zur Sphäre des Dionysischen geschlagen: Orgia stischer Taumel erscheint gleichsam als nega tives Gegenbild zur wahren, menschenver edelnden Freude, die in dem Satz dennoch präsent ist. Denn das Trio mit seiner fröhli chen, denkbar einfachen Bläsermelodie stellt der ungestümen Wildheit des Hauptteils das bukolische Bild heiterer Naivität und Unschuld als äußersten Kontrast entgegen. Es ist er wähnenswert, daß Beethoven einer solchen Interpretation des Scherzos durch die Bemer kung „im Allegro Feier des Bachus" auf einem Skizzenblatt selbst die Richtung gewiesen hat. Das folgende Adagio steht in der sinfonischen Dramaturgie dieses Werkes als utopische Vi sion, als Vorschein jener Freuden des Elysiums, die der Schlußsatz dann so enthusiastisch fei ern wird. Die wunderbare, durch kein Leid ge trübte Ruhe und Schönheit dieses Satzes läßt eine beseligende Aura menschlicher Identität aufblühen, sie suggeriert einen Zustand rei nen Glückes. Wieder hat Beethoven selbst durch die Notiz „im Adagio griechischer My thos“ einen Hinweis auf die Bedeutung des Satzes gegeben, der kaum anders als in dem beschriebenen Sinne verstanden werden kann. Formal baut sich die sehr weit gespannte Komposition aus zwei Themen - das erste hymnisch, das zweite reigenhaft-schwebend — auf, die beide jeweils abwechselnd variiert werden, so daß man von zwei ineinander ver schränkten Variationsreihen sprechen könnte. Als sollte der glückhafte Zustand, den das Adagio beschreibt, mit brutaler Gewalt als scheinhaft entlarvt werden, bricht mit den wüsten, schreienden, dissonanten Klängen, die das Finale eröffnen, der „verzweiflungsvolle Weltzustand" gewaltsam in das Bewußtsein des Hörers ein. Wohl niemals zuvor ist im Be reich reiner Instrumentalmusik Ähnliches ge wagt worden wie diese „Schreckensfanfare" (R. Wagner), in der sich stellenweise nicht we niger als sieben verschiedene Töne überein andertürmen. Die programmatische Absicht ist mit Händen zu greifen: Die Dissonanzen sind klangliche Chiffre für die „wüsten Zeiten" zu denen ein Gegenbild zu suchen sich die Musik nun auf den Weg macht. Wie dies ge schieht, ist von beispielloser Genialität. Denn Beethoven bietet keineswegs sofort eine Al ternative an, sondern läßt den Hörer teil nehmen an der Suche nach ihr. Es sind die Kontrabässe und Violoncelli, die in ihren Re- zitativen dem nach einem Ausweg ausschau enden Subjekt die Stimme leihen: fordernd, fragend, stets jedoch förmlich um Sprache ringend. Noch einmal werden die vorherge henden Sätze mit ihren Anfängen heraufb^= schworen, doch jeden weisen die Bässe M schroffer Gebärde ab, keiner bietet ei^e taugliche Lösung. Da meldet sich, zunächst noch zaghaft in den Holzbläsern, die wunder bar einfache, unnachahmliche einprägsame „Freudenmelodie" zu Wort, und zugleich greifen die Bässe nach ihr und — finden in ihr endlich die langgesuchte Lösung. Ein mächtig sich entfaltender Orchestersatz stellt das „Freudenthema" immer mächtiger und strah lender heraus. Doch noch einmal wird der Hörer in die Wirrnis des Anfangs zurückge rissen, noch einmal klingen die Töne des Schreckens auf, jetzt aber, da die Alternative zu ihnen gefunden ist, vermag die Menschen stimme sie zum Schweigen zu bringen. Mit großer, gebieterischer, melodischer Geste lei tet der Bariton den gewaltigen Lobgesang der Freude ein: „O Freunde, nicht diese Tö ne, sondern laßt uns angenehmere anstim men, und freudenvollere“. Damit ist der Bann endgültig gebrochen, die Freudenmelodie ver bindet sich nun mit den Worten Schillers, zu denen sie erfunden wurde, und in immer ge waltigeren Steigerungen überschreitet der Ju bel beinahe jedes menschliche Maß. Beethoven heißt Kampf, Kampf für den F^^ den, für die Erfüllung des Geistes, für Gelas senheit und triumphierende Freude. Er ver wirklichte sie in seiner Musik — nicht nur in der Neunten, sondern in allen seinen Sinfonien, in seinen Quartetten und Klaviersonaten, in den Trios und Konzerten. Irgendwie muß es uns möglich sein, von seiner Musik zu lernen, indem wir sie hören — nein, nicht hören, son dern ihr lauschen, mit all unserer Kraft der Aufmerksamkeit und Konzentration. Dann können wir vielleicht in etwas hineinwachsen, das würdig ist, Menschheit genannt zu werden. Leonard Bernstein DIE WORTE DES CHOR-FINALES DER NEUNTEN SINFONIE Friedrich Schiller Deine Zauber binden wieder, was die Mode streng geteilt, alle Menschen werden Brüder, wo dein sanfter Flügel weilt. O Freunde, nicht diese Töne, sondern laßt uns angenehmere anstimmen und freudenvollere. Seid umschlungen, Millionen! Diesen Kuß der ganzen Welt! Brüder, überm Sternenzelt muß ein lieber Vater wohnen! Freude trinken alle Wesen an den Brüsten der Natur, alle Guten, alle Bösen folgen ihrer Rosenspur! Küsse gab sie uns und Reben, einen Freund, geprüft im Tod! Wollust ward dem Wurm gegeben, und der Cherub steht vor Gott! Wem der große Wurf gelungen, eines Freundes Freund zu sein, wer ein holdes Weib errungen, mische seinen Jubel ein. Reude, schöner Götterfunken, Tochter aus Elysium, wir betreten feuertrunken, Himmlische, dein Heiligtum. Froh, wie seine Sonnen fliegen durch des Himmels prächt’gen Plan, laufet, Brüder, eure Bahn, freudig, wie ein Heid zum Siegen. Ja, wer auch nur eine Seele • nennt auf dem Erdenrund! wer's nie gekonnt, der stehle weinend sich aus diesem Bund. Ihr stürzt nieder, Millionen? Ahnest du den Schöpfer, Welt? Such ihn überm Sternenzelt! über Sternen muß er wohnen! Freude, schöner Götterfunken! Spielzeit 1989/90 — Chefdirigent: GMD Jörg-Peter Weigle Druck: GGV, BT Heidenau 111-25-16 3,2 JtG 009-44-89 EVP —,50 M Programmblätter der Dresdner Philharmonie Redaktion: Dipl. phil. Sabine Grosse Fotos Seite 2 und 6/7: Frank Hohler Die Werkeinführung verfaßte Wolfgang Marggraf 1984 für die digitale Schallplatteneinspielung der Dresdner Philharmonie beim VEB Deutsche Schallplatten Berlin, ETERNA