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Die Botschaft hör’ ich wohl Ein Festkonzert ist es allemal, wenn Beetho vens „Neunte" auf dem Programm steht. Bei keiner Aufführung durch unser Orchester reichten bisher die Plätze aus, um allen Freun den der Sinfonie das Miterleben dieser Mu sik zu ermöglichen, selbst im Januar dieses Jahres nicht, als sie in einem dem Anlaß ent sprechend kurzfristig anberaumten Sonder konzert zugunsten der armenischen Erdbeben opfer erklang. Aber bedeutet das Hören für jeden Besucher auch wirklich ein Erleben? Warten nicht zu viele von uns über die Dimen sionen der Instrumentalsätze hinweg einzig auf das „Heureka" bei der „Freudenmelodie" im Finale? Und was bedeutet uns dann das Aufnehmen dieser grandiosen musikalischen Idee, die man heute in der Tat zum kulturellen Allgemeinbesitz zählen kann? Wenn wir die „Neunte“ in einem Festkonzert hören, das dem vierzigsten Gründungsjubiläum unseres Staates gewidmet ist, können wir nicht ober flächlich hinwegsehen über das gewaltige philosophisch-menschheitsgeschichtliche Mo numentalgebäude, das Beethoven hier vor 166 Jahren anlegte und in dem wir uns auch heute genau umsehen sollten. Tun wir das, führt uns die Musik gleichsam auf uns selbst zu, finden wir unser eigenes Befinden gespiegelt: Kämp fe umgeben uns, Auseinandersetzungen mit Waffen und Worten (1. Satz). Wie reagieren wir: Laufen wir weg vor ihnen? Oder versu chen wir, mit wirrer Betriebsamkeit davon ab zulenken (2. Satz)? Träumen wir in einer auf gebauten Scheinwelt, fern der Alltagsrealität, und genügt uns die Hoffnung auf einen ruhe voll arkadischen Zustand ohne zielgerichte tes, veränderndes Tätigsein (3. Satz)? An uns selbst liegt es, ob uns letztlich der Glaube an die Botschaft bleiben kann, die uns Beet hoven und Schiller mit ihrer triumphalen Vi sion des bis heute utopisch gebliebenen Bil des der reinen Freude in einer brüderlich vereinten Welt übergeben wollten. sg Die Sinfonie Nr. 9 d-Moll o p. 125, mit der Ludwig van Beethoven sein sinfonisches Schaffen krönte und abschloß, wurde im wesentlichen im Jahre 1823 kompo niert. Somit liegt zwischen der Achten und ihr ein Zeitraum von elf Jahren, in dem nicht nur keine Sinfonie, sondern überhaupt kein Or chesterwerk entstand. Einige allerdings ge wichtige Klaviersonaten, der Liederzyklus „An die ferne Geliebte" und ein paar Gelegen heitswerke sind der — an Beethovens bisheri ger Produktivität gemessen — äußerst beschei dene Ertrag dieses Jahrzehnts von 1812 bis 1822, und unabweisbar stellt sich die Frage nach den Ursachen für einen solch rapiden- Rückgang seines Schaffens. 4^ Die Gründe liegen einmal in den schwersB persönlichen Erfahrungen und Erlebnissen dieser Jahre, zum anderen in den widrigen politischen Verhältnissen: Wie fast stets bei Beethoven sind auch hier persönlich-biogra phische und zeitgeschichtliche Motivationen schwer lösbar ineinander verschränkt. Beetho vens Leben war in dieser Zeit trotz seines nunmehr unangefochtenen Ruhmes schwer überschattet von dem zäh und mit wachsen der Erbitterung geführten Kampf um die Vor mundschaft für den Neffen Karl, von dem rasch fortschreitenden Gehörleiden, das zu nahezu vollständiger Taubheit geführt hatte, und von anderen Krankheiten. Zunehmend litt er unter der Vereinsamung, in die ihn der Mangel des Gehörs fast zwangsläufig trieb; Züge von Hypochondrie und Mißtrauen traten in seinem Charakter zutage und erschweren den Umgang mit den wenigen Freunden. Die se Misere seines äußeren Daseins ließ ihn zwar als Komponisten nicht völlig verstum men, wohl aber bewirkte sie die ausschließ liche Hinwendung zu intimeren Formen, die weniger als Botschaften denn als monologi sche Äußerungen zu verstehen sind. Gewichtiger als diese persönlichen erscheir^W jedoch die zeitbedingten Gründe. Im Jahre 1815 hatte in Wien der berüchtigte Wiener Kongreß getagt, dessen Ziel es war, Europa nach den ungeheuren Erschütterungen der Französischen Revolution, der Revolutions- und Freiheitskriege gewaltsam wieder auf den territorialen und gesellschaftlichen Zustand vor 1789 zurückzuführen, die alten, längst überlebten Herrschaftsverhältnisse noch ein mal zu „restaurieren". Die „Friedhofsruhe", die sich nun für mehr als ein Jahrzehnt über die Länder Europas legte, ließ eine Atmosphäre der Resignation und Dumpfheit entstehen, unter der besonders jene litten, die sich vom Sieg über Napoleon den endlichen Anbruch einer Zeit der Freiheit versprochen und mit hei ßen Herzen und unter großen Opfern für die ses hohe Ziel gekämpft hatten. Sie waren nun um die Früchte ihres Idealismus betrogen. Wenn man bedenkt, wie sehr sich Beethoven mit seiner Musik für diese große Bewegung engagiert hat — gewaltigstes Zeugnis ist die siebente Sinfonie —, so versteht man gut, wie ihn die Verdüsterung der politischen Szene rie irritieren mußte. Jene Ideale, deren Ver kündigung er sich bisher gewidmet hatte, wa ren von ihrer Verwirklichung weiter entfernt denn je — lag es da nicht nahe, an ihnen überhaupt zu zweifeln oder zumindest ihre WBjebrochene Verkündigung in der alten Wei st" für sinnlos zu halten? Auch Beethoven, so fest sein Denken in den aufklärerischen An schauungen gründete, ist von Resignation nicht unberührt geblieben, und aus vielen brieflichen Äußerungen und aus Andeutungen in seinen Konversationsheften läßt sich seine Enttäuschung deutlich ablesen, so etwa aus einem 1817 geschriebenen Brief, in dem es heißt: „. . . was mich anbelangt, so ist ge raume Zeit meine Gesundheit erschüttert, wotzu ihnen auch unser Staats Zustand nicht wenig beiträgt, wovon bis hieher noch keine Verbesserung zu erwarten, wohl aber sich täglich Verschlimmerung desselben ereignet." Freilich: Resignation und Rückzug auf das In nere waren nicht für dauernd Beethovens Sa che — zu stark lebte in ihm die Überzeugung von der ethischen Verpflichtung des Künstlers. 1822 begann er wieder intensiv um die Ge staltung zweier von Anfang an riesenhaft konzipierter Werke zu ringen: das Ergebnis waren die Missa solemnis op. 123 und die neunte Sinfonie, die er beide am 7. Mai 1824 im k. k. Hoftheater nächst dem Kärntnertor in einer eigenen großen Akademie — von der allerdings nur drei Sätze — aufführte, bei war, nach zeitgenössischen Berich ten, grenzenlos. Daß Beethoven im Finale dieser Sinfonie die Begrenzung reiner Instrumentalmusik durch brach und die menschliche Stimme mit Schil lers „Lied an die Freude" einbezog, erklärt sich plausibel aus der besonderen Situation, in der dieses Werk entstand. Man weiß, daß es im Entstehungsprozeß re lativ früh feststand, im Finale die Schillersche „Ode an die Freude" zu vertonen, die Beet hoven seit seinen Jugendjahren vertraut war. Die Art aber, wie ihre Einführung zu bewerk stelligen sei, hat ihn langes überlegen ge kostet. Die Lösung, die er schließlich fand. ist darum so überzeugend, weil sie die end lich errungene Freude als Ziel eines Weges erscheinen läßt, der mühsam ist und über Zweifel und Verzagtheit hinwegführt. Denn das gilt es vor jeder Begegnug mit dem Werk sich bewußt zu machen: Die Neunte kündet im ekstatischen Jubel ihres Finales die selbe Utopie der Freiheit, die letztlich alle Sinfonien Beethovens in den Schlußsätzen auf scheinen lassen, nur tut sie dies, durch Schil lers Text, konkreter, eindeutiger, unmißver ständlicher. Gestützt wird eine solche Interpretation des Schlußsatzes auch durch die Betrachtung der Sätze, die ihm vorangehen. Denn unverkenn bar werden in ihnen Konflikte von solcher Schärfe aufgetürmt, daß eine Lösung in kon ventioneller Weise kaum denkbar erscheint. So führt der erste Satz dem Hörer einen wahrhaft titanischen Kampf vor, dessen Aus gang unentschieden bleibt. Ungewöhnlich gleich der Beginn, an dem nicht, wie üblich, das Hauptthema in seiner vollen Gestalt er scheint, sondern zunächst über dem Tremolo der zweiten Violinen und Violoncelli das kon stitutive Intervall des Themas, die fallende Quinte, sich ausbreitet. Dieser Anfang, un bestimmt auch hinsichtlich des Tongeschlechts, suggeriert fast unabweisbar die Vorstellung des Uranfänglichen, einer Schöpfung aus dem Nichts. Er hat sinfoniegeschichtlich Epoche gemacht: nahezu jede Sinfonie Anton Bruck ners nimmt auf ihn Bezug. Erst im 17. Takt erscheint dann in lapidarem Unisono das Thema in seiner beängstigenden Gewalt, über zwei Oktaven im Dreiklang herabstür zend, dann mühsam sich wieder emporrek- kend: eine musikalische Gestalt, in der buch stäblich die Essenz des gesamten Satzes zu sammengedrängt ist. Vielleicht nirgends sonst läßt sich so deutlich wie hier erleben, was mehr oder weniger für alle Werke Beet hovens gilt: daß der gesamte Satz die Aus breitung, das In-Erscheinung-Treten dessen ist, was im Hauptthema latent sich verbirgt. Die beiden Mittelsätze haben in der Neunten ihren Platz gegeneinander vertauscht: Auf den ersten folgt als zweiter das Scherzo. Die Gründe für diese an sich recht ungewöhnliche Umstellung liegen wahrscheinlich in der in neren Entwicklung des Werkes; sie können rational oder analytisch kaum aufgedeckt werden. Dieser zweite Satz, der in den äuße ren Dimensionen über jedes andere Beetho- vensche Scherzo weit hinausreicht, hat ein Thema von unübertrefflicher Prägnanz, dessen Eignung zu fugischer oder kanonischer Führung