Volltext Seite (XML)
ZUR EINFÜHRUNG Der französische Komponist Ernest Chausson (geb. im Jahre 1855 in Paris) studierte zunächst Jura und arbeitete musika lisch bei Jules Massenet in dessen Komposi tionsklasse am Conservatoire in Paris. Aber erst unter Cesar Franck, dessen Schüler er so dann bis 1883 war, konnte sich Chaussons schöpferische Persönlichkeit entfalten. Die vorwärtstreibende Kraft der französischen Musik prägte sich damals in der sogenannten Societe Nationale aus, die Camille Saint- Saens kurz nach 1870 gegründet hatte. Bald wurde Cesar Franck der geistige Führer der jungen Vereinigung, während Chausson ihr unermüdlicher Generalsekretär war. Zunächst trat Chausson mit Kammermusik an die Öffentlichkeit. Die Einflüsse seines Lehrers Franck und auch Richard Wagners sind in manchen seiner Werke noch sehr deutlich, wenn er auch versuchte, sich von seinen Vor bildern zu lösen, eine eigene, einfachere mu sikalische Sprache auszuprägen. Gleichwohl blieb er, der über hervorragende Geistesga ben verfügte, ein Zweifler, den oft die Unruhe über den eingebildeten Unwert der eigenen Leistung befiel. Für Orchester hat Chausson die sinfonische Dichtung „Viviane" (1882) geschrieben, so dann eine B-Dur-Sinfonie, sein sinfonisches Hauptwerk, das die Dresdner Philharmonie 1981 unter Jean Fournet zur Dresdner Erstauf führung brachte, ein „Vedische Hymne" mit Chören (1891), das „Poeme von Liebe und Meer" (1892) und das Poeme für Violine und Orchester (1896). Ernest Chausson verstarb 1899 in Limay an den Folgen eines Unglücks falles. Chaussons Musik ist klangschön, voller Poesie, Ausdruck seines eminent kultivierten, tiefen und zarten Wesens. Sie vereint das Leiden schaftliche mit dem Distinguierten, ist in Form und Inhalt nobel und erinnert mitunter auch an Debussy, mit dem er in Freundschaft ver bunden war. Das Poeme für Violine und Or chester (in der Fassung mit Klavierbeglei tung gelegentlich in Kammerkonzerten zu hö ren, seltener schon in der originalen Orche sterversion) widmete der Komponist dem be rühmten Geiger Eugene Ysaye. Die über schwengliche klangliche Gebärde, die alterier- te Harmonik des Konzertstückes lassen an Franck und Wagner denken. Wagnerisch emp funden ist schon die orchestrale Einleitung (Lento misterioso). Das danach erklingende Thema der Solovioline bildet die melodisch architektonische Keimzelle der sich rhapso disch frei entfaltenden, klangprächtigen und virtuosen Komposition, auf die alle Entwick lung zurückzuführen ist. Die durchkomponierte Variationsform belegt die enge geistige Ver wandtschaft des Chaussonschen Werkes mit den nachfolgend erklingenden Sinfonischen Variationen Cesar Francks, deren Entstehung zudem nur wenige Jahre früher liegt. Der im Jahre 1822 in Lüttich geborene Kom^^ nist Cesar Franck, Sohn eines woIIot^ sehen Vaters und einer deutschen Mutter, ge langte früh in den Bannkreis von Paris. Früh zeitig mit Preisen für Klavier- und Orgelspiel ausgezeichnet, blieb dem reifen Komponisten die gebührende Anerkennung versagt. Unter ärmlichen Verhältnissen lebte er als Musikleh rer und Organist in Paris, bis ihm 1872 eine Professur am Pariser Konservatorium angetra gen wurde. Erst etliche Jahre nach seinem Tod (1890) begannen sich seine Werke durchzuset zen. Die verschiedensten Kulturkreise, die sich in dem in Frankeich lebenden Wallonen Franck, der für deutsche Musik eine große Neigung be saß, berühren, gelangen in seinen Kompositio nen zu einer interessanten Mischung. Dabei ist wichtig festzustellen, daß diese verschiedenen Einflüsse — Bach, Rameau, Brahms, Liszt, Wagner, Berlioz — von Franck keineswegs ek lektisch benutzt werden, sondern durch seine schöpferische Persönlichkeit eine ganz eigene Verarbeitung erfahren. Eine an Rameau und Bach geschulte, häufig kontrapunktisch durch setzte Formklarheit und eine mit französischer Delikatesse beleuchtete Instrumentation siAif Wesensmerkmale der Musik Francks. Von lioz, Liszt und Wagner übernimmt er die glei tende Chromatik der Mittelstimmen, den sat ten, farbigen Orchesterklang, die schwelgerisch blühende Melodik. Manche Eigentümlichkeiten seiner Wusik verweisen bereits auf den Impres sionismus. So fügt Cesar Franck mit einer Rei he seiner Werke der europäischen Musik des 19. Jahrhunderts eine sehr persönliche Note hinzu. Die Sinfonischen Variationen für Klavier und Orches ter, 1885 entstan den, gehören zu den reifsten Leistungen des Komponisten. Bereits der Titel „Sinfonische Va riationen" deutet darauf hin, daß es sich in dem vorliegenden Werk nicht um eine Reihung einzelner, unabhängiger Veränderungen des Themas handelt (wie es beispielsweise bei den Mozart-Variationen von Reger der Fall ist), sondern, daß das Thema, besser: die Themen, in sinfonischer Technik variiert werden. Dieses sinfonische Prinzip zeigt sich bereits in der Themenaufstellung. Wie im Sonatenhauptsatz werden zwei Themen gegenübergestellt: das erste von den Streichern unisono intoniert, aus konsequenter Verfolgung eines prägnanten, rhythmisch bestimmten Motivs erwachsend, markant, männlich im Charakter, dem das zweite — vom Soloinstrument vorgetragen — so- l^rt folgt: eine schwärmerische Melodie, in ^Mikater Weise harmonisiert. Nach der knap pen Themenexposition beginnen nun im Ge gen- und Miteinander von Klavier und Orche ster die kunstvollen Variationen. Die Über gänge sind fließend gehalten, das sinfonische Prinzip bleibt erhalten. Kurze hingetupfte 3 /<- Takt-Episoden schieben sich in die Entwicklung ein. Ein Fis-Dur-Mittelteil — molto piü lento — bildet einen Stimmungs-Gegensatz. Thematisch sind die Celli in diesem Teil stark beteiligt, über einem ausgedehnten Ok tavtriller des Solisten beginnen Celli und Bässe mit dem zweiten Thema den drit ten Teil des Werkes, in dem thematisch nun noch dieses zweite Thema zahlreiche musika lische, satztechnische und also auch charakter liche Veränderungen erfährt. Das Werk bietet dem Solisten reiche pianistische Entfaltungs möglichkeiten. Manchmal, so besondes im Fis- Dur-Mittelteil, erinnert die Behandlung des So loinstruments an Chopin, an dem auch die schwebende Harmonik geschult zu sein scheint. Daß es Franck gelingt, den Eindruck des Spontanen, Leidenschaftlichen mit den Mitteln des strengen Kontrapunktes zu errei chen, ist ein Zeichen für seine Wesensver- ^kndtschaft andererseits mit Brahms. „Das russische Element in meiner Musik im allgemeinen — das heißt die dem russischen Lied verwandte Art und Weise der Melodie führung und ihre Harmonisierung — ist dar auf zurückzuführen, daß ich, in völliger Welt abgeschiedenheit geboren, von frühester Kind heit an von der unbeschreiblichen Schönheit der charakteristischen Züge der Volksmusik durchdrungen war und ich das russische Ele ment in allen seinen Erscheinungsformen bis zur Leidenschaft liebe, mit einem Wort, daß ich eben ein Russe bin im erschöpfendsten Sinne des Wortes." Diese Worte Peter Tschaikowskis treffen in besonderer Weise auf seine in den Jahren 1877/78 (in un mittelbarer Nachbarschaft zur Oper „Eugen Onegin") entstandene, am 10. Februar 1878 in Moskau uraufgeführte Sinfonie Nr. 4 f-Moll o p. 36 zu, in der sich eine starke innere Beziehung zur Volksmusik seiner Hei mat deutlich widerspiegelt. Eine schwere, durch das Scheitern seiner unglücklichen Ehe be dingte Lebens- und Schaffenskrise des Mei sters, aber auch der Beginn neuer künstle rischer und menschlicher Gesundung fanden in dieser Sinfonie ihren Niederschlag. Tschai kowski widmete das Werk seinem „besten Freunde", seiner Gönnerin Nadjeshda von Meck, die ihm seit 1877 als verständnisvolle, seine Musik bewundernde Freundin zur Seite stand und ihn durch finanzielle Unterstützung für lange Zeit von materiellen Sorgen unab hängig machte. Durch den hochinteressanten Briefwechsel zwischen dem Komponisten und Frau von Meck, die sich übrigens bekanntlich persönlich niemals gesehen haben (was An laß zu zahlreichen romanhaften Deutungen dieses ungewöhnlichen Freundschaftsverhält nisses gegeben hat), erhalten wir gerade im Falle der vierten Sinfonie wesentliche Auf schlüsse über Haltung und Anliegen des Wer kes. Obwohl Tschaikowski anderen (so auch seinem Schüler Sergej Tanejew) gegenüber leugnete, daß die neue Sinfonie programma tisch zu deuten sei, berichtete er jedoch Frau von Meck in einem ausführlichen Brief von einem eigentlich nur für sie bestimmten Pro gramm der einzelnen Sätze: „Unsere Sinfonie hat ein Programm, das heißt, es besteht hier die Möglichkeit, in Worten darzulegen, was sie auszudrücken sucht." Der sehr umfangreiche erste Satz beginnt mit einer Einleitung, die nach Tschaikowski „den Keim der ganzen Sinfonie, ohne Zwei fel die Kernidee" enthält; der rhythmisch prägnante Triolengedanke des Anfangs sym bolisiert das „unerbittliche Fatum, jene Schick salsgewalt, die unser Streben nach Glück hindert, die eifersüchtig darüber wacht, daß Glück und Friede nicht vollkommen und un getrübt seien". Neben diesem Grundthema bestimmen zwei weitere Themen, eine schwe bend-elegische, sehnsüchtige Walzermelodie, das eigentliche Hauptthema, und ein liebli cher, von der Klarinette vorgetragener Seiten-