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Notizen zu meiner komponierten Interpretation der „ Winterreise" - (von Hans Zender) Weisen aus den Worten heraus horcht und sie mir zurückgibt." Schuberts Vertonungen dürften Müller unbekannt geblieben sein. Und als die „Winterreise" erschien, lebte Müller nicht mehr. Aber die eigenartig visionären Bilder seiner beispiellosen Lyrik hatten durch Schuberts Töne ein unvergängli ches Leben gewonnen. Stefan Kunze Seit Erfindung der Notation ist die Überlieferung von Musik geteilt in den vom Komponisten fixierten Text und die vom Interpreten aktualisier te klingende Realität. Ich habe ein halbes Leben damit verbracht, möglichst textgetreue Interpretatio nen anzustreben - insbesondere von Schuberts Werken, die ich tief liebe um doch heute mir einge stehen zu müssen: es gibt keine ori ginalgetreue Interpretation. So wichtig es ist, die Texte genaue stens zu lesen, so unmöglich ist es, sie lediglich rekonstruierend zum Leben zu erwecken. Abgesehen davon, daß sich sehr viele Dinge, wie Instrumente, Säle, Bedeutung von Zeichen etc. verändert haben, muß man verstehen, daß jede No tenschrift in erster Linie eine Auffor derung zur Aktion ist und nicht ei ne eindeutige Beschreibung von Klängen. Es bedarf des schöpferi schen Einsatzes des Interpretieren den, seines Temperamentes, seiner Intelligenz, seiner durch die Ästhe tik der eigenen Zeit entwickelten Sensibilität, um eine wirklich leben dige und erregende Aufführung zu stande zu bringen (ich rede nicht von äußerlicher Perfektion). Dann geht etwas vom Wesen des Inter preten in das aufgeführte Werk über: Er wird zum Mitautor. Verfälschung? Ich sage: schöpferi sche Veränderung. Musikwerke ha ben wie Theaterstücke die Chance, sich durch große Interpretationen zu verjüngen. Diese sagen dann nicht nur etwas über den Interpre ten aus, sondern sie bringen auch neue Aspekte des Werkes zu Be wußtsein. Ein Werk wie die „Winterreise" ist eine Ikone unserer Musiktradition, eines der großen Meisterwerke Eu ropas. Wird man ihm ganz ge recht, wenn man es nur in der heu te üblichen Form - zwei Herren im Frack, Steinway, ein meist sehr großer Saal - darstellt? Viele hal ten es für wichtig, sich darüber hin aus dem Klang des historischen Originals wiederanzunähern. Das „heilige Original" - es wird heute viel gepflegt, auf Hammer klavieren, Schubert-Flügeln, Kurz halsgeigen und Holzflöten. Und das ist auch gut so, obwohl wir nicht der Illusion verfallen dürfen, daß Aufführungen mit historischen Instrumenten uns so ohne weiteres den Geist der Entstehungszeit zurückbringen könnten. Zu sehr ha ben sich unsere Hörgewohnheiten und unsere Ohren verändert, zu sehr ist unser Bewußtsein geprägt von Musik, die nach Schubert ge schrieben wurde. Oft wird viel mehr eine „historisch-getreue" Auf führung als „Verfremdung" dessen,