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V0K K/sc/e/ W88 k^ ^it««rts-VerlaL, öorlio S8 171 Nachdruck verboten „Ei verflucht! Du Notz hast ja auch keine Ahnung! 'Jetzt rennen wir den beiden doch bestimmt in die Arme." „Ja, da habe ich mich geirrt!" gibt Wilhelm kleinlaut izu. „Du, Heinrich...!" flötet er. „Was ist denn, mein Liebling?" „Gehst du 'runter und sagst dem Portier Bescheid, daß .er uns später wecken soll?" „Ach, dich haben sie wohl...?!" „Ich hab's ja gewußt", stöhnt Wilhelm und erhebt sich ächzend. Zwanzigstes Kapite Die Ausreißer kramen vergeblich in allen Taschen herum. Was vor ihnen auf dem Tisch liegt, ist ihre ganze Barschaft. Lanter klingende Münzen, von einem Papier schein keine Spur. Andächtig zählt Heinrich: Vier Schilling und zwanzig Heller, neunzehn Tschechcnkronen und 75 deutsche Rcichspsennig. Die Pfennige müssen als eiserner Bestand bleiben für den gar nicht auszudenkcnden Fall, daß man sich in Dresden verfehlt. Mit Hilfe einer erst dreimal gelochten Sammelkartc der Berliner Straßen bahn besteht wenigstens die Möglichkeit, auf anständige Weise vom Anhalter Bahnhof nach Hause zu kommen. Das österreichische Geld wird Jcnnp ausgchändigt, die damit den Proviant für die Reise ciukauft: Brötchen, Butler und etwas Käse, ein Ende Wurst und ein paar Aepfel. Als sie die Rechnung bezahlen, erscheint der Haus diener und erbietet sich, die Koffer zum Bahnhof zu tragen. Heinrich lacht laut aus. Wilhelm wird rot und winkt hastig ab. In weiser Voraussicht hatten sic schon daraus verzichtet, die Schuhe zum Putzen vor die Tür zu stellen. Tie Situation ist allen peinlich. Wie Landstreicher kommen sie sich vor, grüßen linkisch und schleppen die Kösser so ungeschickt hinaus, daß Wilhelm mit lautem Krach gegen die Tür stößt. Portier und Hausdiener sehen mit verschränkten Armen zu und schütteln verächtlich die Köpfe. Keiner von den Ausreißern wagt cs, sich noch einmal umzusehcn. Eine halbe Stunde vor Abgang des Zuges siud sie aus dem Bahnhof. Jcnnp geht voraus und sicht nach, ob die Luft rein ist. winkt, und mit Aufbietung der letzten Kraft bugsieren sic die Kösser und sich selbst in ein Abteil am Ende des Zuges. Tie sind erschöpft und hungrig, reif zur Kapitulation. Aber die, auf die sic im stillen warten, kommen nicht. Sie sind längst abgcrcist. Denn Strubbs wollte noch einen kurzen Eindruck von Prag mitnehmen, und mit dem Frühzug ergab sich die Möglichkeit, die Fahrt für drei Stunden in Prag zu unterbrechen. Also, bis dahin muß mau mindestens auShaltcn, denkt jeder, als sich der Zug in Bewegung setzt, und die letzte Etappe der Reise beginnt. In Lnndcnbnrg: „Haben Sie etwas zu verzollen?" Heinrich lächelt freundlich. „Ein wenig Bräune im Gesicht, im Moment wenig gute Laune, einen halb ge füllten Ringen — sonst nichts." Ter Beamte versteht Spaß und lacht. Die neunzehn Kronen lassen keine Ruhe. Sic werden hier restlos auf den Kopf geschlagen und erweisen sich als erstaunlich ergiebig: Tic Ausreißer erstehen schönes Obst, eine Tafel Schokolade, zwei Gläser Bier für die Männer, zehn Zigaretten und eine Schachtel Streichhölzer. Vor lauter Hunger sangen sic an zu rauchen. Stunden vergehen. Während der Zug durch das schöne „Böhmische Thüringen" fährt, hält die Schaulust die Ge müter wach. Dan» aber überfällt sie Müdigkeit. Die letzten Brötchen werden verzehrt, dann die letzten Aepfel, der Rest der Schokolade. Daraufhin meldet sich der Durst. „Wann sind wir in Prag?" fragt Jenny. „Ich schätze gegen fünf, halb sechs", sagt Wilhelm. Alle drei denken an Prag, sehnen sich nach Prag, hoffen auf Prag. „Und wenn Strubbs und Leopold den Zug in Wien verpaßt haben?" fragt Heinrich, mehr für sich. Darauf ist Jenny noch gar nicht gekommen. Hilfe suchend sieht sic zu Wilhelm. „Ach wo", wehrt Wilhelm ab. „Leopold und Zug ver passen — ausgeschlossen!" Aber die Hoffnung Hal einen Niß bekommen. Am Horizont erscheinen die Silhouetten von Häusern und Fabriken. „Wir sind da", stellt Wilhelm fest und er- hebt sich. Alle drei stehen am Fenster, als der Zug lang sam in den Masaryk-Bahnhos cinfährt. Nachdem sic vorsichtig hiuauögclugt haben, «finen sic die Fenster und schauen über den Bahnsteig. Leopold und Strubbs sind nicht zn entdecken. Schließlich steigt Heinrich aus und läuft bis zur Sperre. Umsonst. Vom anderen Ende des Zuges her geht ein Ruck durch die Wagen, die neue Maschine ist vorgefahrcn. Ruse, Winken — und lang sam rollt der Zug rückwärts aus der Kopfstation. „Wann sind wir in Dresden?" fragt Jenny jetzt, und ein wenig später sogar: „Und wann in Berlin?" Wilhelm beruhigt sie. „Elfriede ist bestimmt in Dresden." „Und wenn nicht?" fragt Heinrich und massiert sorgen voll den Magen. Als sie die Elbe erreichten, bricht die Dämmerung herein. Heinrich hält es in seinem Abteil nicht mehr aus und läuft ziellos durch den Zug. Als er an der Küche des Speisewagens vorbeikommt, schließt er die Augen und schnuppert genießerisch. Wilhelm läßt sich unterdessen in ein Gespräch mit einem Sudetcndeutschcn ein, der in Prag eingcstiegen ist. Groß mütig bietet er ihm eine Zigarette an. „Ich verstehe nichts von Zigaretten", entschuldigt er sich, „aber gut ist sie be stimmt nicht." „Diese müssen Sie sich kaufen", antwortet der Fremde und holt eine Schachtel aus der Tasche. „Die sind besser und kosten nicht viel mehr." „Kaufen!" Wilhelm stößt Jenny an, und beide lachen herzhaft. „Wenn Sie wüßten...! Wir sind völlig ab gebrannt." Der Fremde lächelt. „Das kommt vor. Bitte, nehmen Sic doch diese. Ich steige in Aussig aus und taufe mir dann eine neue Schachtel." Wilhelm lehnt verlegen ab. „So war das doch nicht gemeint." „Aber ich bitt' Sic, das macht doch nichts. Mir ist das auch schon so ergangen." Als er sich in Aussig freundlich verabschiedet, läßt er die Schachtel liegen. Plötzlich erscheint Heinrich, reißt die Tür auf und ruft aufgeregt: „Sic sind im Zuge! Ganz vorn im ersten Wagen!" Jenny und Wilhelm springen gleichzeitig auf. „Sie sind in Prag zugestiegcn. Man hat dort zwei Wage» angchängt", berichtet Heinrich weiter. „Hast du sic gesprochen?" „Nein. Ich habe sic ganz zufällig in ihrem Abteil ent deckt. Sic lasen beide und haben mich nicht gesehen." Die drei sahen sich an, von einem zum anderen. „Also jetzt", sagt Wilhelm mit Uebcrwindung, „bin ich dafür, jetzt halten wir durch. Spätestens in zwei Stunden sind wir in Dresden, bis dahin werden wir schon nicht verhungern." Die anderen beiden sind „selbstverständlich" ein verstanden, und während sic wortreich die heroische Stim mung schüren, vergeht die Zeit wie im Fluge. Der Aufenthalt auf der Grenzstation Bodenbach bildet noch einmal eine empfindliche Belastungsprobe für die Ausgehungerten. Endlich beginnen die Rüder wieder ihr stampfendes Lied. „Jetzt sind wir gleich in Deutschland", verkündet Wilhelm feierlich. Die drei stehen am Fenster und fühlen sich dankbar geborgen. Die Heimkehr macht sic still. „Tu, Heinrich — gleich kommt HerruSkretschen." Die Männer sehen sich an, und ohne ein Wort zu sprechen, sind sic sich einig. „Dürfen wir? Wir kommen gleich wieder, Fräulein Jenny", bittet Heinrich. „Aber selbstverständlich!" Die Männer ziehen ihre Schlipse gerade und gehen Arm in Arm davon. Sie haben einen weiten Weg und beeilen sich. Als sic auf den Gang des Wagens gelangen, in dem das junge Ehepaar Platz genommen hat, erblicken sic Strubbs, die gerade mit einem Handtuch über dem Arm das Abteil verläßt und in Fahrtrichtung davongeht. Die Männer warten, bis sie verschwunden ist, und pirschen sich dann näher. Leopold sitzt ganz allein im Abteil und liest. Wilhelm und Heinrich beobachten ihn eine Weile und schneiden sich gegenseitig Grimassen. Cie verständigen sich mit großen Gesten; ein jeder will dem anderen den Vor tritt lassen. Endlich ermannt sich Heinrich, Wilhelm folg« ihm und schließt hinter sich behutsam die Tür. Mitreisende, die einen Blick in das Abteil warfen, be merkten, wie die drei Männer lebhaft aufeinander cin- sprachen. E i n u n d z w a n z i g st e s Kapitel Strubbs lehnt sich weit aus dem Fenster, als der Zug in Dresden cinfährt. Tic erblickt Frau Elfriede sofort, wiukt und lacht. Während Leopold die Koffer hinaus bugsiert, begrüßen sich die Frauen herzlich, wie alte Be kannte. Strubbs lächelt verschmitzt, Frau Elfriede forscht in ihrem Gesicht und ist beruhigt. Unterdessen ist auch Leopold hcrangckommcn und macht eine höfliche Ver- beugung. „Und wo sind die anderen, wo ist mein Mann?" fragt Elfriede und sicht suchend umher. Strubbs sieht ihren Mam« cm, »r PM H-MmOl Leopolds Goficht verfinstert sich. Gr z«Nt M MWWft Mm nimmt die Kofiar wieder in -ie .Hand, aus AeMWuhÄt. Strubbs mutz für ihn antworten, und sie tut es Wik «tuoM gekünstelten Lachen: „Offen gesagt, riebe Doan wir haben keine Ahnung!" Elfriede erschrickt sichtlich. „Ja, aber — Ist passiert?" Leopold wiederholt gedehnt: „Patzsiert? Das kann num wohl sagen. Ausgerückt sind sie, im Stich gelassen habest sic uns! Es war nicht sehr schön, gnädige Frau." Die Flauer« erblassen. Strubbs ist ebenso überrascht wie Frau Elfriede, die die Hand vor den Mund nimmt und die Augen zu Strubbs wendet mit einem Ausdruck, der besagen soll: Ich habe es ja gleich gewußt! Zaghaft fragt sie weiter: „Sind sie denn nicht in diesem Zug?" „Gewiß!" erklärt Leopold bestimmt, und Strubbs ist aufs neue überrascht. „Wir können ja mal nachschauen. Wir haben übrigens keine Eile. Der Zug hat hier eine halbe Stunde Aufenthalt." Frau Elfriede bleibt unschlüssig stehen, während sich Leopold gemächlich in Bewegung setzt. „Ich versteh' nicht", sagt sie gepreßt, „sind Sic denn in« Unfrieden aus- einander gegangen?" Leopold wendet sich halb um. Ohne auf die Frage cinzugehcn, sagt er bestimmt: „Entschuldigen Sie, gnädige Frau, aber Sie wollen gewiß Ihren Gatten begrüßen. Das übrige wird sich schon finden." Und er geht voran, die Frauen folgen langsam und verwirrt. „Was ist denn bloß passiert?" flüstert Frau Elfriede. Strubbs stammelt: „Ich weiß auch nicht. Mein Mann ist auf einmal so komisch. Ich hatte auch kein« Ahnung, daß die anderen im Zug sind." Elfriede hört schon nicht mehr zu, denn sie hat Wilhelm erblickt, der ihr ohne Mantel und Hut cnlgcgenkomm«. „Da bist du ja", ruft er erfreut und schließt sie gleich darauf iu die Arme. Elfriede gibt ihm einen Kuß, was Wilhelm sichtlich peinlich ist, und macht sich los. „Aber was macht ihr für Sachen", meint sie vorwurfsvoll, „wo sind denn die anderen?" „Einen Augenblick!" Wilhelm begrüßt Strubbs freund lich und schließlich auch Leopold mit frostiger Liebens- Würdigkeit. „Auch schon da? Gute Reise gehabt?" „Danke, ausgezeichnet", antwortet Leopold ebenso und wendet sich ab. Strubbs sicht slchcnd zu Wilhelm und weiß nicht, was sie von dieser Begrüßung halten soll. Während sie weitcrgehcn, wendet sich Wilhelm wieder seiner Frau zu. „Die anderen wollen nicht ausstcigen. Ich weiß ja auch nicht..." „Von mir aus können sic auch gleich nach Berlin weiterfahrcn", wirft Leopold unfreundlich ein. Elfriede und Strubbs legen wie aus einem Munde Protest ein. Aber cs macht wenig Eindruck auf Leopold, denn er fügt achselzuckend hinzu: „Ausdrängen werde ich mich wenigstens nicht." In gedrückter Stimmung bleiben sic unter den: Abteil- fcnster stehen, hinter dem sich Jenny und Heinrich gegen- übcrjitzcn. Offenbar sind sic in ein anregendes Gespräch vertieft. „Kommt doch 'raus!" ruft Strubbs, uud cs klingt be schwörend. Heinrich sieht aus, läßt das Fenster herunter und fragt naiv: „Was ist los?" Es ist eigentlich zum Lachen, aber die Mienen bleiben ernst. Heinrich erblickt Frau Elfriede und verbeugt sich artig. Auch Jenny erscheint nun am Fenster, winkt ver stohlen hinaus und sagt ahnungslos: „Wenn ihr uns recht nett bittet..." Aber es bittet sic niemand. Die ganze Gesellschaft ist wie auf den Mund gefalle». Jenny bemerkt cs mit Be fremden, ist nun auch ganz ratlos. Endlich stampft Strubbs mit dem Fuß auf und ruft mit funkelnden Augen: „Also, was soll das eigentlich? Ihr ziert euch wie Backfische, Leopold spielt den Be leidigten, und Tie" — mit einer Wendung zu Wilhelm — „machen ein griesgrämiges Gesicht, als müßten Tic..." „... zum Zahnarzt", ergänzt Heinrich. Jenny lacht als einzige. Leopold verbeißt sich das Lachen mit Mühe und sagt nach einer Pause mit Schärfe: „Ich möchte dich doch bitten... So stehen wir zueinander nicht mehr!" Elfriede ist noch eine Spur blasser geworden. „Aber ihr zankt euch ja...!" Wilhelm sieht zu Boden, Leopold verschränkt die Arme und starrt vor sich hin, und Heinrich hebt den Blick zum Himmel, während die Frauen ihre Augen prüfend auf den Männern ruhen lassen. Strubbs möchte am liebsten laut loslachcn, dem« die Männer sehen wie Lausbuben aus, die sich beim Spiel gezankt haben. Aber ganz ge heuer ist ihr nicht zumute, deshalb entschließt sie sich, «ö Gegenteil zu tun. Sie verzieht ihr Gesicht, als müßte sie weinen, und kramt ihr Taschentuch hervor. Heinrich er schrickt und wendet sich ab; cr kann keine Frau weinen sehen. Wilhelm verharrt steif in seiner Haltung. Leopold ist der Umschwung der Stimmung, der sich bei Strubbs sichtlich aubahut, natürlich nicht entgangen; er geh auf sie zu und fleh« hilflos: „Aber Kind!" Strubbs schluchzt hinicr dem Taschentuch: „Sichst du, Poldi, ich hab's ja gewußt!" „Gar nichts hast du gewußt", tröstet Leopold uud fällt gänzlich ans dcr Rolle. „Ist doch nur alles Scherz!" Heinrich dreht sich mit einem Ruck um uud ringt die Hände. „Ach, ein Idiot!" ruft er verzweifelt und meint cs diesmal wirklich ernst. (Schluß folg«)