Volltext Seite (XML)
Klassikers, das am wenigsten mißverstanden wurde; zu seinem Verständnis trug eine allgemein bekanntgewordene Interpretation des Meisters selbst bei. die er in einem Brief an die »Geliebte Freundin» (so der Titel des bekannten Buches, das den Briefwechsel Tschaikowskis mit Nadeshda von Meck enthält) niedergelegt hatte. Heute freilich, da wir die Forschungen der sowjetischen Musikgelehrten kennen, die sich gerade Tschaikowskis mit besonderer Liebe angenommen haben, sehen wir die Sinfonie und ihre Auslegung durch den Komponisten mit neuen Augen. Wir wissen heute, daß die Sinfonie gleichzeitig mit der Oper »Eugen Onegin« übrigens, in der wir manchen verwandten Gedanken finden, entstand in einer »Epoche des Umbruchs in Rußland als das Alte vor den Augen aller unwieder bringlich zusammenstürzte und das Neue sich erst zu bilden begann« (W. I. Lenin, Band XV, Seite 102). In diesen Jahren spitzten sich die sozialen Gegensätze in Rußland auf schärfste zu. Die Welle der Revolution wuchs an. In Petersburg wurde demonstriert. Die Jugend rief die Bauern zum Kampf gegen die Zarenregierung auf. In einer Reihe von politischen Pro zessen wurden die Anhänger des Volkes erbarmungslos unterdrückt. Tschai kowski stand bei diesen Ereignissen nicht unbeteiligt beiseite. Dieser feine Lyriker, dieser zartfühlende Musiker war ein politischer Mensch, der fein fühlig auf die Schwankungen des sozialen Bodens reagierte, der das sich nähernde Ungewitter spürte. »Wir erleben eine furchtbare Zeit« schrieb er in einem Brief des Jahres 1878, »versucht man, sich in die Geschehnisse hineinzudenken, so wird einem bange zumute . . . « Und ein andermal beklagt er die »fresche, hartherzige Willkür des Petersburger Präfekten« (d. h. des Bürgermeisters): »Die Haare stehen einem zu Berge, wenn man erfährt, wie mitleidlos, hart, unmenschlich die Jugend behandelt wird«. Aus dieser Stim mung heraus ist die Vierte Sinfonie entstanden. Das in der Einleitung ertönende Fanfarenmotiv ist nach seinen eigenen Worten das »Samenkorn der ganzen Sinfonie«. Es versinnbildlicht »das Fatum, das Schicksal, jene verhängnis volle Macht, die unser Streben nach Glück sich nicht verwirklichen läßt . . . Diese Macht ist unbesiegbar und unentrinnbar«. Im Hauptteil des ersten Satzes kündet dann das erste Thema von Ergebung und fruchtloser Sehn sucht, das zweite, nach einem großen Ritardando und Diminuendo in der Soloklarinette einse^end. von Träumen, in die man selbstvergessen sinkt, um dann um so rauher von der Wirklichkeit, vom Ruf des Schicksals geweckt zu werden: »So ist denn unser ganzes Leben ein unablässiger Wechsel harter Wirklichkeit und flüchtiger Traumgebilde . . .« Der zweite Satz mit seinem zuerst von den Oboen angestimmten dann von anderen Instrumenten aufgenommen b-Mol-Gesang drückt nach den Worten Tschaikowskis »eine andere Stufe der Schwermut« aus. »Es ist jenes wehmütige Gefühl, das uns des Abends ergreift, wenn wir einsam dasi^en, ermüdet von unserm Tagwerk, ein Buch auf den Knien, das unser Hand entsank. Erinnerungen brechen in Mengen auf uns ein«. Der dritte Satj, durchweg Streicher-Pizzikato, unter brochen nur von einem kurzen Mittelsalz, »drückt keine bestimmten Empfin dungen aus ... Es ist einem weder heiter noch traurig ums Herz«. «Bild fegen jener Art, wie sie uns beim Einschlafen durch den Sinn huschen«, das vergessene Bild betrunkener Bäuerlein, ein Gassenhauer, irgendwo in der Ferne ein militärischer Auszug . . . Der vierte Satj aber zeigt den Weg aus der Sackgasse der individuellen Abgeschlossenheit. So nämlich erklärt der Komponist der Freundin das ideelle Ergebnis seiner Vierten Sinfonie: »Wenn du in dir selbst keinen Anlaß zur Freude findest, so suche sie in anderen Menschen. Geh ins Volk, sieh, wie es versteht, heiter zu sein und sich ungehemmt der Freude hinzugeben • . . Sage nicht, alles auf Erden sei traurig. Es gibt schlichte, aber tiefe Freuden. Freue dich an fremder Freude. Es ist immerhin möglich, zu leben«. Dieses »Gehe zum Volke!« hat Tschaikowski musikalisch in den kraft- und lichtvollen Partien des Finales und dadurch zum Ausdruck gebracht, daß er den lebten Satj als eine Para phrase des Volkliedes »Es stand eine Birke im Felde« anlegte. Er hat mit jenen Worten das Musikideal ausgesprochen, das auch die sowjetischen Komponisten beseelt. Prof. Dr. Karl Laux