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Das Andante geht unmittelbar über in das Finale-Allegro, das noch einmal blinkt und sprüht, Tanzrhythmen (zwei Themen, davon das zweite im 7/8-Takt) aneinanderreiht und die Jugend in fröhlichem, ja übermütigem Beisammensein zeigt, die sowjetische Jugend, die Jugend der Welt, der die Liebe des Komponisten gehört. Zu bewundern ist auch hier, wie die Meisterhand Schostakowitschs das schlichte Material zu einem Meisterwerk verarbeitet, wie er die Klang farben des Klaviers unter Bevorzugung der äußeren Lagen ins Treffen führt und mit einem differenziert behandelten Orchester verbindet. Peter Tschaikowski stand im Jahre 1877 auf der Höhe seines Könnens. Mit Recht konnte er ein Meister genannt werden. 16 Jahre waren ihm noch zu leben vergönnt. Eine reiche, überreiche Ernte hatte er noch in die Scheuer zu bringen. Das Jahr 1877 war ein Jahr des Schicksals. Am 18. Juli hatte er sich mit einer früheren Schüle rin verheiratet, aber schon sehr bald stellte es sich heraus, daß die Ehe keinen Bestand haben würde. Eine zweite Frau trat in sein Leben, mit der er aber nur brieflich verkehrte: Frau Nadeshda Filaretowna von Meck, die Tschaikowski nicht nur reichlich mit Geld unterstützte; sie sprach dem Zagenden Mut zu und stärkte sein Selbstbewußtsein. Zu den Werken, die damals geschaffen wurden, gehört auch eine Sinfonie, die Vierte. Leben und Werk gehen inein ander über, beeinflussen sich gegenseitig. Das Werk ist der Spiegel des Lebens, nicht nur des eigenen, sondern auch der des russischen Volkes. Das gilt sowohl von der Vierten Sinfonie wie von der damals komponierten Oper „Eugen Onegin“, den Werken, die Tschaikowskis Weltruhm begründet haben. Die Vierte Sinfonie entstand — ich folge hier den Ausführungen von Prof. S. A. Bugoslawski — in der „Epoche des Umbruchs in Rußland, als das Alte vor den Augen aller unwiederbringlich zusammenstürzte und das Neue sich erst zu bilden begann“ (W. I. Lenin). Die sozialen Gegensätze hatten sich aufs äußerste zugespitzt, der Widerstand gegen das Zarenregime wuchs. In Petersburg wurde demonstriert. Aber alle, die es wagten, sich gegen die Unterdrücker aufzulehnen, wurden erbarmungslos unterdrückt. Tschaikowski äußerte sich - und man sieht daraus, wie klar und parteilich er die Lage beurteilte - im Jahre 1878, als Wera Sassulitsch einen Schuß auf den Bürgermeister von Petersburg abgegeben hatte, über die „freche, hartherzige Willkür des Petersburger Präfekten“ (gemeint ist der Bürgermeister). „Die Haare stehen einem zu Berge, wenn man erfährt, wie mitleidlos, hart, unmenschlich die Jugend behandelt wird.“ Ja, Tschai kowski, der feinfühlige Musiker, spürte die Unruhe der Zeit, spürte, daß sich ein Unwetter zusammenziehen mußte. „Wir erleben eine furchtbare Zeit, versucht man, sich in die Ge schehnisse hineinzudenken, so wird einem bange zumute . . .“ So ist also der Inhalt der Vierten Sinfonie in doppelter Weise zu deuten. Einmal - sicherlich mehr unbewußt - als Widerspiegelung der gesellschaftlichen Zustände, als Zeitbild, andererseits als „musikalische Beichte einer Seele, die übervoll ist an Eindrücken, welche sich nur in Töne ergießen“ - so drückt sich der Komponist aus in dem viel zitierten Brief an Frau von Meck, in dem er auf ihren Wunsch das Programm der Vierten erklärt. Es ist Sitte geworden, die Authen tizität dieser Aussage anzuzweifeln, d. h. mit mitleidigem Lächeln wird versichert, Tschaikowski habe hier geirrt. Für uns besteht kein Grund dafür, daran zu zweifeln, daß der Komponist ja wohl am besten wissen muß, was er mit seinem Werk aussagen will. Und so sehen wir in diesem Werk eine echte Schicksalssinfonie vor uns, in der das blindwütige Walten des „Fatums“, jener verhängnisvollen Schicksalsgewalt, welche unser Streben nach Glück verhindert“, ge schildert aber auch gezeigt wird, wie der Mensch diesem Schicksal „in den Rachen greift“, um es zu überwinden. Die Tschaikowskische Auslegung dieser Beethovenschen Maxime erfahren v ir (und damit wird wieder die über das Einzelschicksal des Komponisten, seine mißglückte Eheschließung hinaus gültige Allgemeingeltung bestätigt), wenn er vom Finale, einer Paraphrase des Volksliedes „Es steht im Feld ein Birkenbäumchen“, sagt: „Wenn du in dir selbst keine Ursache zur Freude finden kannst, so schau dir andere Menschen an! Gehe zum Volk! Schau, wie es diese Menschen verstehen, lustig zu sein und sich vollkommen ihren freudigen Gefühlen hinzu »eben. Das Bild eines Volksfestes an einem Feiertage! . . . Und du willst immer noch behaupten, daß alles in der Welt düster und traurig ist? Es gibt einfache, aber kraftvolle Freuden. Freu dich über die Freude der andern. Es ist immerhin möglich zu leben.“ So zeigt also Tschaikowski mit diesem Werk „den Ausweg aus der Sackgasse der individuellen Abge schlossenheit“ (Bugoslawski). Zur Deutung des Werkes muß noch ein anderer Brief herangezogen werden, der an Tschai kowskis Schüler und späteren Nachfolger im Amt des Kompositionslehrers am Moskauer Konservatorium, Tanejew, gerichtet ist. Ihm gegenüber sagt er deutlich, daß es ihm wirklich darum zu tun war, „eine Nachahmung der Fünften Sinfonie Beethovens“ zu schreiben, natürlich nur so setzt er hinzu, was die Grundidee angeht. In diesem Brief steht auch die ungemein wichtige Bemerkung, die das bestätigt, was über den inneren Zusammenhang des gesamten Orchesterschaffens Tschaikowskis, der Sinfonien wie der sinfonischen Dichtungen, zu sagen ist: „Was nun endlich Ihre Bemerkungen anbelangt, daß meine Sinfonie nach Programmusik klinge, so stimme ich Ihnen in dieser Beziehung durchaus bei. Ich sehe nur wiederum nicht ein, warum nun das ein Fehler sein sollte. Ich fürchte mich vielmehr vor dem Gegenteil, daß heißt, ich könnte mir absolut nicht wünschen, daß aus meiner Feder jemals sinfonische Werke entstehen könnten, welche nichts auszudrücken hätten und bloß Akkorde und Harmonien sowie Rhythmen- und Modulationsspiel bedeuten würden.“ Da hat man in nuce die russische - und von ihr übernommen und weitergebildet - die sowjetische Ästhetik der Musik, ihre Forderung nach Realismus, ihre Ablehnung des Formalismus. Dem ersten Satz der Vierten Sinfonie ist eine Einleitung vorausgestellt, von der der Komponist sagt: „Die Einleitung enthält den Keim der ganzen Sinfonie, ohne Zweifel die Kernidee. Es ist, wie schon bemerkt wurde, das Fatum, jene Schicksalsgewalt, die unser Streben nach Glück hindert, ans Ziel zu gelangen, die eifersüchtig darüber wacht, daß Glück und Friede nicht vollkommen und ungetrübt seien.“ Der Hauptsatz selbst beginnt mit einem walzerartigen Thema, Ausdruck des Glücksverlangens. Die weitere Entwicklung des Satzes ist voller Überraschungen und von einer unruhigen Leiden schaft bewegt, steigert sich schließlich zur Darstellung eines tragischen Kampfes, wobei das elegische Hauptthema mit dem Schicksalsthema konfrontiert wird. Im zweiten Satz singt zum Pizzicato der Streicher die Oboe eine wehmütige Weise, die Volks liedelemente aufweist. Ein kurzer Mittelteil bringt eine gegensätzliche Stimmung auf. Der Komponist sagt dazu: „Das ist jenes melancholische Gefühl, das sich des Abends einstellt, wenn man allein sitzt, von der Arbeit ermüdet. Man hat ein Buch ergriffen, aber es ist einem aus der Hand gesunken. Ein ganzer Schwarm von Erinnerungen taucht auf. Sich der Jugend