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t4. Fortsetzung.) Angestrengt lauschte er aufs neue. Es rauschte leise im Gebüsch. „Es wird ein aufgeschreckter, schlaftrunkener Vogel sein." „Nicht doch. Das meine ich nicht. Horch doch nur — hörst du sie nicht läuten? Ganz leise, aber doch ganz hell..." „Läuten...? Wen denn»? Glocken?' „Ja — winzig kleine, weiße Glocken...", sagte sie und sah zur Seite nieder. Er folgte ihrem Blick. Es war in dem Dunkel nichts zu erkennen, aber jetzt fiel ihm ein: An dieser Stelle hatten am Morgen ein paar verfrühte Maiglöckchen ihre zarten weißen Blüten entfaltet. Mit stiller, aber tiefer Freude hatte Annelies sie ihm mittags, als er aus dem Geschäft gekommen war, gezeigt. „Meinst du die Maiglöckchen?" forschte er. „Ja. Hörst du nun ihr Läuten? Man muß nur das richtige Ohr dafür haben. So läutet auch mein Herz, Günter..." Stumm sah er ihr einen Augenblick in das seltsam auf geschlossene Gesicht. Dann zog er sie wieder an sich. „Du liebes, liebes Menschenkind du! Laß es immer für mich läuten, damit ich jeden Tag aufs neue den Weg zu dir finde. Der Alltag hat nur selten festliche Stunden und braucht diesen Klang, um den Menschen zur Be sinnung zu rufen. Soll es so sein, Annelies?" „So soll es sein, Günter. Was das Leben auch bringen mag, mein Herz wird immer bei dir und um dich sein." Als sie dann leise die Treppe zum zweiten Stockwerk hinanfhuschte, sah sie, daß der Vorsaal zu Onkel Korbi- nians Wohnung erleuchtet war. Sie zögerte einen Moment. Mit vorsichtigen Schritten stieg sie dann die letzten Stuscu hinauf und näherte sich der Tür zu ihrer Wohnung. Da wurde die nebenan gelegene Vorsaaltür geöffnet. Korbinian Sartorius trat auf die Schwelle. Ein stilles, verständnisvolles Lächeln lag auf seinem Gesicht. „Merkwürdig", sagte er leise, „so junges Volk sollte eigentlich einen ausgemachten Bärcnschlaf haben. Statt dessen spukt man noch zu mitternächtlicher Stunde im Garren herum..." „Es ist doch Frühling, Onkel Korbinian — wer soll denn da schlafen wie ein Bär oder ein Murmeltier", er- WMrte sie mit strahlenden Augen. „Du spukst ja auch noch herum. Wenn auch nicht gerade im Garten." „Muß ich auch. Zum mindesten will ich doch sehen, ob du etwas von besagtem Frühling mit heraufbringst." „Versteht sich, Onkel! Ein ganzes Herz voll! Ist das nicht genng?" „Es langt. Vollständig. Und ich weiß nun Bescheid und brauche dir woFl nicht erst zu sagen, wie ich mich freue. Laß dich nun nicht länger anfhalten, hole ein bißchen von dem versäumten Schlaf nach und träume schön!" „Wird besorgt. Auch von Onkel Korbinian?" „Auch das kann nicht schaden, er meint es gut mit dir.' „Das weiß ich, Onkel. Und schlaf auch du recht gut!" Sie huschte leise hinein und schaltete das Licht ein. Aber es war nicht nur die Beleuchtung, die das Zimmer so hell machte wie seit langer Zeit nicht. Man mußte j wirklich selber ein Licht in sich tragen, das die Umgebung ! mit seinem Strahlen erhellte. Annelies fand lange leinen Schlaf. Wieviel Gutes, aber auch unendlich Schweres hatte sie in diesen Räumen schon erlebt! Ihre Mutter, die jüngste Schwester der Frau - Senator, hatte gegen den Willen der Eltern einen Kunst- ; maler geheiratet. Es war dadurch zum Zerfall mit der Familie gekommen. Der Vater von Annelies war eine j tiefinnerlichc Künstlernatur gewesen und hatte dem Leben § und seinen harten Anforderungen immer etwas fremd ! gegenübergestanden. Es war kein glänzendes Los, das ; er seiner Familie hatte bieten können. Nach seinem frühen ! Tode war es wieder zu einer Annäherung mit den An- ' gehörigen gekommen. Annelies und ihre Mutter hallen i im Hause Sartorius eine Zuflucht gefunden. Die Mutter, ! und späterhin auch Annelies, hatten sich durch die An- ! fcrtigung von Handarbeiten das Notwendigste zum ! Lebensunterhalt verdient, aber man war im Grunde ge- ! nommen doch von der Familie Sartorius abhängig j gewesen. Auch als die Mutter, von den schweren Lebenskämpfen der vergangenen Jahre zermürbt, einem Herzleiden er legen war, hatte man Annelies bei sich behalten. Sic wurde zur Familie gerechnet und war der Frau Senatoc eine willkommene Stütze und Gesellschafterin. Nach alldem war es kein Wunder, daß sie nicht mit dem rechten Froh sinn und der sonnigen, überquellenden Lebensfreude der Jugend aufgewachsen war, zumal sie etwas von der ver innerlichten, zurückhaltend« Natur des Vaters geerbt hatte. Aber nun hatte sich ja mit einem Male alles grund legend geändert. Nicht nur, daß ihr äußeres Leben eine neue Richtung und Wertung bekommen würde, vor allem würde der innere Mensch nun endlich zu seinem Recht uns zur Entfaltung gelangen. Und die Liebe zu Günter, die man so lange still in sich hatte verbergen müssen, durfte man nun frei bekennen. Man wurde wtedergeliebt und konnte sich in der Sonne dieser gegenseitigen Liebe baden und dehnen wie ein junger Baum im Frühlingslicht. War es nicht, als ob man in den wenigen Stunden ein ganz anderer Mensch geworden wäre? Und war das nicht wie ein Wunder, ein unendlich beglückendes, berauschend schönes und fast unfaßbares Wunder? Zweites Kapitel. Die strahlende Vormittagssonne lag wie eine blitzende Wolke von Licht auf der breiten Fassade des mächtigen Koittorgebäudcs der Firma Sartorius L Söhne, das erst vor reichlich zwei Jahrzehnten neu errichtet worden und wenM Minuten von dem alten Pattizierhaus entfernt am Mirtorius-Ring gelegen war. Emsiges Leben und Schaffen herrschte in den Räumen.' Schreibmaschinen l klapperten, Telephone rasselten, eilige Schritte klangen ! durch die weitverzweigten Räumlichkeiten. Ab und zu hob sich ein Kopf, sah einen Augenblick sehnsüchtig in die strahlende Sonne hinaus und beugte sich sofort wieder zu dem Arbeitsplatz nieder. Es war eben elf Uhr durch, als die Telephonistin in der Zentrale den etwas selbstbewußten Anruf einer weib lichen Stimme anfnahm. „Ist Herr Sartorius zu sprechen? ,Der Herr Senator oder Herr Günter Sarrortus?" ,Ach so — Herr Günter Sartorius natürlich." „Wen darf ich melden?" „Namen interessieren Sie nicht. Bitte verbinden Sie mich!" kam es in herrischem Ton zurück. Schweigend kam die Telephonistin dem Verlangen nach. In dem gemeinsamen Privatkontor ertönte ein dop- peltes Zeichen der Telephonglocke, das Günter galt. ! Günter war nicht anwesend, daher arikf der Senator nach i dem Hörer. „Ja...?" rine kurze Pause des Zögerns entstand. „Günter...?" kam es dann wie in leiser Unstcherye». aus dem Apparat. Der Senator lauschte erstaunt der Stimme nach. „Wer ist denn dort?" forschte er. Wieder entstand eine kurze Pause. „Ich möchte Herrn Günter Sartorius sprechen", um ging die fremde Stimme dann die Frage in offenbarer leiser Ungeduld. „Mein Sohn ist nicht hier", erwiderte der Senator, der in einer wichtigen Arbeit unterbrochen worden war. „Einen Augenblick, ich lasse Sie verbinden." Er schob den Hebel der Zwischenschaltung zurück, die Zentrale meldete sich wieder. ! „Mein Sohn ist drüben in Speicher zwei", sagte erv s „Geben Sie das Gespräch dorthin!" — Ss'? --