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X KO^/^Vc)^ (33. Fortsetzung.) Nach mehr als cinstündigcm Ritt langten die Reiter in Buchenrode an. Gersheim überlies; das Pferd seinem Reit- lnecht und begab sich hinaus zu seinem alten Freund, der ihn schon sehniichst erwartete und das Spiel bereits auf gestellt hatte. „Na — matt?" kam der alte Graf Gersheim entgegen und drückte ihm herzhaft die Hand. „Oh, ich denke nicht", lächelte der junge Gersheim frisch zurück. Der Alte schmunzelte. „Na, dann kann ja das Spiel beginnen." Wie rüstig dieser Fünfundscchzigjährige noch ist!, schoß cs Gersheim durch den Kopf. Bewundernd folgte sein Blick der voranschreitenden Gestalt des Grafen, die, hoch und breitschultrig, vom Alter noch nicht im geringsten ge beugt war. Herrlich sah er aus in der blauen Hausjoppe, die zu seinem silberweißen Haar und den frischen Farben seiner .Haut einen wirksamen Gegensatz bildete. Schon immer hatte er den Greis sehr verehrt. Das ein zige, was ihm etwas mißfiel an dem alten Freund, war sein starrer Adelsstolz, l Günter von Gersheim dachte in diesen Dingen so mydern wie nur möglich. „Keiner kann dafür, wo seine Wiege gestanden hat", sagte er oft. „Es kommt nur auf den Menschen an. Oft genug stecken in Frack und Seide Lumpen, und in Lumpen die wertyollsten Menschen." Sa wandte sich Graf Nyssen dem jungen Gersheim zu. „Wir spielen heute nicht in meinem Arbeitszimmer. Der Kamin ist nicht in Ordnung. Da kriegt man es nicht richtig warm bei dieser Kälte, nnd ich muß leider auf mein Rheuma ein bißchen Rücksicht nehmen. Ich habe das Turm zimmer Herrichten lassen. Mein Lieblingsaufenthalt im Winter." Gersheim erwiderte nichts. Er nickte nur und folgte dem Grasen. Sie traten bald darauf in ein rundes, behagliches Zimmer, altväterlich, traulich ausgestattet, wie sie in alten Schlössern häufig zu finden sind. „Einen Moment entschuldigen Sie mich noch, junger Freund. Ich muß mir erst meine richtige Pfeife heraus suchen. Jean, der alte Dussel, bringt mir immer die ver kehrte, wenn er sie holen soll." Baron Günter von Gersheim war allein im Zimmer nnv haue Muße, es genauer in Augenschein zu nehmen. Im Kamin prasselte ein mächtiges Feuer und schuf die richtige Stimmung. Der Samowar sumMte. Gersheims Augen wanderten an den Wänden entlang. Er betrachtete die herrlichen Kupferstiche eingehend, die er so liebte. Doch plötzlich fühlte er, wie ihm das Blut aus den Wangen wich. In einem großen, goldenen Rahmen hing ein ovales > Bild, das einen entzückend-feinen Mädchenkops zeigte. „Gerlinde!" Gersheim schrie auf, preßte aber sofort i die Hand vor den Mund. § Jetzt war ihm klar, Ho er Gerlindes Gesicht schon ein- ! mal gesehen hatte. Hier. Dieses Bild hatte es ihm gezeigt. ! Ganz nahe trat er an das seine Gemälde heran, > studierte jeden Zug dieses wunderbaren Mädchcngesichts. i Welches Spiel hatte die Natur hier getrieben? Der junge Baron atmete tief und wischte sich mit der i Hand über die Stirn, als wolle er etwas wcgwischcn. Er , wollte dieses Mädchenbildnis, nicht in Beziehung bringen ! mit jenem Mädchen da in Berlin — mit dieser Tänzerin i aus der Verdi-Diele, die zu einem berüchtigten Lebemann > nnd Frauenjäger in unklaren Beziehungen stand. Und doch, immer wieder zog es ihn wie mit unsicht baren Händen, und er wandte seinen Kopf zu dem Bilde hin, das so viel mühsam bezwungenen Schmerz, so viel Enttäuschung wieder in ihm aufriß Da trat Graf Nyssen ein. Günter von Gersheim merkte es nicht. Er sah auch nicht, wie sich das Gesicht des alten Freundes plötzlich ver düsterte, als ob eine dunkle Wolke darüber hinge, während seine Lippen sich zusammenpreßten, daß sie schmal wurden wie ein Strich. Endlich räusperte sich Graf Nyssen, und Gersheim fuhr, wie aus dem Schlaf aufschreckend, herum. „Verzeihung, Gras Nyssen! Das Bild - dieses Gesicht — so wunderbar ist es; cs fesselte mich." „So?" Eine Weile war Stille zwischen den Männern, dann sagte Gras Nyssen mit einer Stimme, die nichts von seiner inneren Bewegung verriet: „Ein Jugendbildnis meiner Tochter. Aber — nun kommen Sie, Gersheim." Noch einen Blick warf Baron Günter von Gersheim auf das liebliche Bild, als wolle er all seine Süße in sich hineintrinkcn, dann ritz er sich los und wandte sich seinem Gastgeber zu. . Mit feinem Takt empfand er, daß der Alte nicht mehr sagen wollte. Es war da früher so ein Gerücht im Umlauf, ermnerte er sich jetzt; doch er war damals noch ein ganz kleiner Knabe gewesen. Ihm war wenig davon zu Ohren gekommen. Und es hatte ihn auch nicht weiter interessiert, was aus der schönen Tochter des Grafen geworden war. Er gab diesen Gedanken auch jetzt nicht nach; ein anderes Gefühl war viel stärker in ihm ausgelöst worden — in seinem Herzen brannte aufs neue die Liebe zu Gerlinde Steinbrück, dem armen Mädchen aus dem Berliner Norden, das eine so seltsame Aehnlichtcit mit der Gräfin Nyssen hatte. Hätte er damals doch der Sache nicht mehr nachgehen sollen? Hätte er Gerlinde selbst fragen sollen? Daß diese Kinderaugen gelogen haben sollten, hatte ihn beinah zur Verzweiflung gebracht. Aber ein Irrtum war doch so gut wie ausgeschlossen gewesen. Der Name, das Aussehen — alles stimmte. Kei» Zweifel, die Tänzerin aus der Verdi-Diele war Gerlinde gewesen, aber — mutzte sie deshalb schlecht sein? Nun ja — Doktor von Sachs stand da noch im Hintergrund. Und doch — vielleicht war Gerlinde nicht schlecht, sondern nur irgendwie haltlos und unglücklich. Vielleicht zwang nur Not sie auf die schiefe Bahn, und er, Gersheim, hätte das Mädchen retten können? Au diesem Abend spielten sie beide schlecht. Der Alte uuv ocr Junge. Denn beiden war es nicht möglich, sich restlich aus das Spiel zu konzentrieren. In Nyssen wühlte sie Vergangenheit, in Gersheim keimte auss neue die Liebe zu Gerlinde. Ais er gegen Mitternacht durch den tiesön Wald heim ritt, beleuchtete der Mond seinen Weg und schuf eine märchcnschönc Stimmung. Aber Günter von Gersheim achtete nicht, wie sonst, darauf. Seine Gedanken eilten gen Norden. Wo mochte Gerlinde jetzt sein? Was war aus dem hübschen Wagen geworden, den sie da gewonnen halte? Aber — das war ja Nebensache. Was war aus ihr geworden? Wochen vergingen. In Gersheims Seele wurde es nicht wieder ruhig. Manchmal ertappte er sich dabei, daß seine Gedanken nur halb bei der Arbeit waren, während sie meistens in Berlin weilten. Er merkte endlich immer mehr, daß alles in ihm drängte, Gerlinde noch ein einziges Mal wenigstens zu sehen; aus ihrem eigenen Munde wollte er hören, daß sie die Freundin des Doktor von Sachs sei, und er sich damals nicht getäuscht habe. Aber sie — sie selber sollte es ihm sagen. Dann wollte er es glauben. * Die Zeit eilte weiter. Mehr als zwct Wochen waren schon vergangen, seit Gerlinde Steinbrück die geliebte Mutter hatte hingeben müssen. Vom Geschäft hatte man Gerlinde für einige Zeit beurlauben wollen, weil sie gar so blatz und schmal aussah, aber oas Mädchen hatte sehr energisch abgelehnt. Instinktiv schien Gerlinde zu fühlen, daß die Pflicht am ehesten über das Leid hinwcghalf, wenigstens schien ihr der Gedanke, daheim herumzusitzcn und über ihr Schicksal nachzudenken, viel unerträglicher.