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heit der Komposition zutiefst angetan, äußerte er doch überschwenglich: „Ich würde alle meine Werke hingeben, wenn mir ein Werk wie die Hebriden- Ouvertüre gelungen wäre." Die echt romantische Sehnsucht nach dem Volkslied, dem Schlichten, Innigen, Einfachen, Allverständlichen, hat auch Gustav Mahler ergriffen, den Musiker, der im sinfonischen Schaffen seine eigentliche Aufgabe sah. Es be rührt uns eigenartig, daß das Volkslied in ihm zum Gegenpol zur Spannung der großen sinfonischen Werke wurde. Die Sehnsucht nach den wahrhaften Wurzeln der Musik, die er, wie alle Romantiker, im Volkslied sah, trieb ihn dazu, den Volkston zu suchen, Melodien dem Volkslied nachzuempfinden, Wei sen zu ersinnen, die dem Wesen des Volkes gemäß sein sollten. Soweit ging seine Sehnsucht, daß er hoffte, seine Lieder würden anonym wie das echte Volkslied werden, würden also vom Volke gesungen, ohne daß dieses nach dem Schöpfer der Melodien fragte. Wie schlicht und naiv sich jedoch Mahler ge geben hat, so ist doch bei jedem Lied etwas spezifisch Mahlerisches zu finden, eine so unverwechselbar nur Mahler eigene Note, ein so eindeutig nur au(l Mahler hinweisender Klang, daß diese Lieder zwar häufig im Konzertsaal er klingen und dort das große Können Mahlers verkünden, aber wegen dieser Eigenart eben nicht anonym werden konnten. Das klangliche Gewand der „Lieder eines fahrenden Gesellen", die Mahler selbst gedichtet hat, ist jenes der Spätromantik. Mahlers einzig artiges Können auf dem Gebiet der Instrumentation tut sich in jedem Takt kund. Spätromantische Stileigentümlichkeiten werden häufig eingesetzt; Laut malereien, die der Vögel süßen Gesang hören lassen, Harfen und Glocken, die das Klingen der Glockenblumen zauberhaft verwirklichen, das Tremolo der Streicher, das das Wehen des Windes erkennen läßt - Dinge, die zwar selbst eine berauschende, romantisch-gefühlshafte Stimmung hervorrufen, aber selbst nicht mehr schlicht und einfach sind. Diese vier Lieder Gustav Mahlers (1884 komponiert) werden also immer als bedeutende Zeugnisse der verfeinerten, aber auch überreifen Kunst der Spätromantik Geltung behalten. Am 18. Februar 1891 hatte An ton Bruckner dem Wiener Musikschrift steller Theodor Helm als „Geheimnis" mitgeteilt, daß die 9. Sinfonie be gonnen sei. Die ersten Entwürfe gehen allerdings bis auf den Sommer 1887 zurück. Immer wieder von Krankheit heimgesucht, arbeitete Bruckner viele Jahre an dem Werk. „Ich habe", sagte er einmal, „auf Erden meine Schuldigkeit ge tan; ich tat, was ich konnte, und nur eines möchte ich mir noch wünschen: wäre mir doch vergönnt, meine 9. Sinfonie zu vollenden! Drei Sätze sind nahezu fer tig, das Adagio ist fast zu Ende komponiert, bleibt nur mehr der vierte Sat^a übrig. Der Tod wird mir hoffentlich die Feder nicht früher aus der Hand neh^J men." Das Werk sollte, wie die h-Moll-Sinfonie Franz Schuberts, unvollendet bleiben. Am 11. Oktober 1896 saß er morgens noch am Klavier über den Skizzen zum Finale. Am Nachmittag war sein Leben ausgelöscht. Blieb uns also die 9. Sinfonie Anton Bruckners als gewaltiger Torso. In ihrem ersten Satz scheint er noch einmal alle Kämpfe seines Lebens zusammenzufas sen. Zugleich aber gibt er die Zusammenfassung seines musikalischen Ringens, seines Ringens um die neue Form der Sinfonie, seiner Sinfonie. Dieser erste Teil seines Testaments zeigt die Maße der Architektur, die den oft gebrauchten Vergleich Bruckners mit Michelangelo, dem großem Baumeister und Bildhauer, rechtfertigen. Und man wird an das Wort Goethes erinnert: „Ich bin in dem Augenblicke so für Michelangelo eingenommen, daß mir nicht einmal die Natur auf ihn schmeckt, da ich sie doch nicht mit so großen Augen wie er sehen 4 kann." Wieder einmal läßt Bruckner das Hauptthema erst allmählich sich formen. Es wird vorbereitet in einer Einleitung, die mit einem 18taktigen Orgelpunkt auf d, dem Grundton des ersten Satzes, beginnt. Acht Hörner künden das Haupt thema an, indem sie vom Grundton aus zuerst die Terz, dann die Quinte er reichen. Im Gegensatz zur Beethovenschen Neunten, die in der gleichen Ton art steht und mit einem ähnlichen Vorgang beginnt, wird hier die Terz von vornherein einbezogen, werden die drei Töne des Dreiklangs verwendet — wir wissen, welche Bedeutung die Zahl drei in Bruckners Werk hat. Das Haupt thema bricht dann im Unisono des vollen Orchesters mit einer Urgewalt herein, wie sie nur Bruckner entfesseln konnte. Es ist das Schicksal, dessen Hammer schläge ertönen, und es ist zugleich ein Symbol für die Titanenkraft des Men schen, der sich gegen das Schicksal stemmt. Die melodische Linie des Themas wird bestimmt durch den Absprung von dem Grundton auf die Dominante A, die beiden Töne, die schon in der Einleitung eine so wichtige Rolle spielten. Im Gegensatz dazu ist die Gesangsgruppe mit einer süßen Melodie in den er sten Violinen, einem Begleitgesang der zweiten Violinen, der Bratschen und der Celli, die sich zu wärmenden Harmonien finden, beseligende Musik glück hafter Zeiten. Das dritte Hauptthema aber greift wieder auf das erste zurück: Unisono des d-Moll-Akkords (d — f — a) in den Violinen und Bratschen, dem die tiefen Streicher in Gegenbewegung antworten, dazu Umschreibungen des Ak kords in den Holzbläsern. Mit diesem Material wird eine Durchführung von gewaltigen Maßen und schier unübersehbarem Reichtum der thematischen Be ziehungen gestaltet, die sich bis in die Reprise hinein — sie bringt keine wört liche Wiederkehr des ersten Themas! — erstrecken. Die Coda greift sinngemäß auf die Einleitung zurück, so daß der ganze Satz in einem festen Rahmen steht. Das Scherzo, wie in der 8. Sinfonie an zweiter Stelle, greift noch einmal die Brucknersche Scherzo-Idee auf, wie sie schon in der 1. Sinfonie aufgezeichnet war und seitdem in sieben Variationen durchgeführt wurde. In dieser achten und letzten Variation hat der totkranke Mann, im Hauptteil sowohl wie im Trio, das kühnste geschrieben. Das hat schon Hermann Kretzschmar, der dem Mei ster im allgemeinen nicht ganz gerecht wird, erkannt, als er schrieb: „Der zweite Satz ist das vielleicht grausamste und unheimlichste Scherzo, das die sinfoni sche Literatur aufzuweisen hat. Die Themen sind, auch im Trio, nur Figuren, die im verminderten Septakkord spukhaft, fahl, gehetzt und entsetzt hinauf- und hinabjagen; als Kern der Musik trägt die Erinnerung die mörderisch dröh nenden Rhythmen der Hörner, Trompeten und Posaunen heim." Das ist Elfen tanz und Geisterraunen, Rauhnachtschreck und Walpurgiszauber, Weltentaumel und Höllenspuk. Das Adagio aber stößt die Tore des Himmels auf. Das erste Thema ist ein Ab bild des ganzen Satzes; wie es, zuerst im vergeblichen Ansprung der kleinen None, dann aber immer sehnsüchtiger und inbrünstiger sich aufschwingt, be sonders markant auf den Tönen des D-Dur-Dreiklangs (glänzend instrumentiert mit dem Einsatz der drei Trompeten) und damit den d-Moll-Dreiklang des ersten Satzes aufhebend, so schwang sich Bruckners Seele auf den Flügeln dieser Töne in die ewige Verklärung. Mehr als ein langsamer Satz ist dieses Adagio mit Rückbeziehungen auf die Thematik der vorangegangenen Sätze ein echtes Finale, und man kann die Sinfonie trotz des fehlenden vierten Satzes als vollendete ansehen, genau wie die „Unvollendete" Franz Schuberts. Da aber auch Themen aus früheren Sinfonien auftauchen (erstes Adagio = Thema der 8. und Hauptthema der 7. Sinfonie), ist es der Finalesatz für Anton Bruck ners gesamtes Schaffen, das in ihm eine letzte Verinnerlichung von überirdi scher Schönheit erfährt.